Singen vor dem Altenheim, musizieren für die Nachbarschaft: Eine wachsende Zahl von Musiker*innen engagiert sich, um ihren Mitmenschen das Leben in der Quarantäne erträglicher zu machen und ihnen ein Stück „Resonanz auf Distanz“ zu schenken. Wenn Nähe nicht mehr physisch hergestellt werden kann, dann muss sie symbolisch “gezeigt” werden.
Wir möchten dieses Engagement mit Tipps und Konzepten unterstützen: Was sollte man unbedingt beim Musizieren vor dem Altenheim beachten? Warum muss man bei Straßenmusik die Kreisformel Pi berücksichtigen? Und warum genügt beim Singen in geschlossenen Räumen der übliche Mindestabstand nicht? (April 2020)
1) Sicherheitsregeln für das Singen und Musizieren
Rechtliche und epidemiologische Basisinformationen: Was man in Zeiten von Corona beim Musizieren unbedingt beachten muss. >> mehr
2) Leitfaden für das Musizieren vor Altenheimen
Altenheimbewohner*innen stehen unter besonders strenger Quarantäne. Singen und Musizieren “auf Abstand” ist eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten, überhaupt in Kontakt und Dialog mit der Außenwelt zu treten. >> mehr
3) Straßenmusik
Straßenmusik, bei der garantiert niemand stehenbleibt! Kölns Straßenmusik-Legende Klaus der Geiger singt die “Moritat vom verarmten Musikus”. >> mehr
4) Bläser auf Abstand
Aufgrund ihrer klanglichen Tragfähigkeit sind Blechblasinstrumente besonders gut dafür geeignet, größere Distanzen zu überbrücken. Wir stellen ein Konzept für „Blasmusik auf Abstand“ vor. >> mehr
(zum Vergrößern anklicken)
Aktualisierung 2. Mai
Die Musikhochschule Freiburg hat am 25. April eine sehr differenzierte, gründlich recherchierte und faktenreiche Risikoeinschätzung zu Coronavirus-Infektionen im Bereich der Musik vorgelegt >> zum Artikel. Der Artikel bestätigt im Prinzip unsere u.st. Einschätzung, rät aber im Unterschied zu uns generell von jeglicher Art des chorischen Singens ab.
Eine sehr anschauliche Visualisierung der Ausbreitung von Aerosolen beim Singen bietet das Karsruher Institut für Technische Thermodynamik >> zum Artikel.
Chorgesang kann tödlich sein
Die Kontaktregeln lockern sich allmählich, die Schulen öffnen schrittweise ihre Türen. Singen in sicherem Abstand ist nach Wochen der Isolation eine wunderschöne Sache. Aber Vorsicht in geschlossenen Räumen! Hier genügen die üblichen zwei Meter Sicherheitsabstand nicht! Im März 2020 haben sich bei Chorproben und Gottesdiensten (und auch bei der berühmt-berüchtigten Karnevalsfeier in Heinsberg) in kürzester Zeit sehr viele Menschen angesteckt – ausgehend von jeweils nur einem einzigen Menschen, der oder die unwissentlich infiziert war. In Mount Vernont (USA) sind zwei Menschen nach Ansteckung in einer Chorprobe verstorben. Kollektives Singen scheint gewissermaßen die umgekehrte Wirkung einer Schutzmaske zu haben: Das „Aerosol“, also die Mischung aus Atemluft und Schwebeteilchen, verteilt sich besonders effizient im Raum. Das gleiche gilt vermutlich auch für manche Blasinstrumente (s.u.).
Es gibt derzeit noch keine detaillierten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Übertragung des SARS-CoV-2-Virus beim Singen. Aber das Robert-Koch-Institut warnt: „Mit Sicherheit gehört das Singen im Chor zu den risikoreichen Tätigkeiten“. (Vgl. ecnb.de – Chorsingen und Corona). Folgerichtig bleibt das Singen in der Schule oder Kirche trotz allmählicher Lockerungen weiterhin verboten.
Nach Absprache mit unserem wissenschaftlichen Berater Michael Wallach empfehlen wir deshalb, in der Anfangszeit auf “Nummer sicher” zu gehen – auch dort, wo von seiten der Behörden noch keine klaren Regeln vorliegen.
Was Sie unbedingt beachten sollten
Informieren Sie sich zunächst über die aktuelle Rechtslage in Ihrem Bundesland. Für Schulen und Gottesdienste besteht in vielen Bundesländern ein ausdrückliches Sing-Verbot (Stand: 30. April). Falls ein gemeinsames Singen grundsätzlich erlaubt sein sollte, dann gehen Sie am besten nach draußen oder zumindest in einen besonders großen Raum (Schulaula, Turnhalle, Kirche…). Stellen Sie sich in einen sehr großen Kreis, so dass alle Sänger*innen den größtmöglichen Abstand voneinander haben. Vermeiden Sie es anfangs, in kompletter Schulklassen- oder Chor-Größe zu singen, sondern beginnen Sie mit kleineren Gruppengrößen.
Gibt es Spielräume?
Für die ersten Versuche in geschlossenen Räumen empfehlen wir zur Sicherheit einen “übertrieben großen” Abstand von bis zu zehn Metern zwischen den Sänger*innen. Angehörige der “Risikogruppen” sollten nicht beteiligt sein, die Proben- oder Veranstaltungsdauer sollte sich auf kurze Zeitintervalle beschränken (maximal 30 Minuten). Es sollten nur Räume genutzt werden, die sich sehr gut belüften lassen und/oder so groß sind, dass keine erhöhte Viruskonzentration zu befürchten ist. Im Freien sollten vier bis fünf Meter Abstand zwischen den Sänger*innen genügen. Dieser Abstand kann dann wahrscheinlich in den kommenden Wochen nach und nach experimentell gesenkt und die Gruppengröße vorsichtig erhöht werden.
Herkömmliche Chorproben, die ein präzises Singen in gemeinsamem Metrum voraussetzen, werden sich auf dieser Grundlage vor der Einführung flächendeckender Tests oder eines Impfstoffes kaum realisieren lassen. Denkbar wäre aber in sehr großen Räumen mit besonders tragfähiger Akustik (insbesondere in Kirchen) die Umsetzung musikalischer Formen, die auf dem Prinzip einer “künstlerisch gewollten Ungleichzeitigkeit” (Fachbegriff: Heterophonie) basieren. Nichts einzuwenden ist gegen Body-Percussion, leises Summen oder ein stummes, chorisches Gestenspiel.
(20. April, zuletzt aktualisiert am 30. April)
Aus medizinischer Sicht ist das Musizieren im Freien bei ausreichendem Abstand deutlich unbedenklicher als in geschlossenen Räumen. Aber aufgepasst: Hier muss man zwischen der Rechtslage und der Ansteckungsgefahr unterscheiden. Selbst eine hundertprozentig infektionssichere Straßenmusik kann je nach aktuellem Stand der Kontaktregeln verboten oder stark eingeschränkt sein.
Was in der Öffentlichkeit erlaubt ist und was nicht, ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt – und es kann sich auch wieder verändern. Informieren Sie sich deshalb unbedingt vorab über die Kontaktbeschränkungen in Ihrem Bundesland:
>> Übersicht Stand 06.04.2020
>> aktualisierte Übersicht Stand 24.04.2020
Gegenwärtig (Stand: Anfang April) dürfen Sie auf keinen Fall gezielt zu einer musikalischen Veranstaltung einladen. Das Versammlungsrecht ist außer Kraft gesetzt, ein angekündigtes Konzert wäre eine Straftat. Gruppen mit mehr als zwei Menschen sind in der Öffentlichkeit verboten. Musik im öffentlichen Raum ist also (je nach Bundesland) allenfalls in größerem Abstand für vorübergehende Passanten möglich.
Auch Sie selbst dürfen nicht als Gruppe mit mehr als zwei Personen musizieren. Die einzige Ausnahme bildet Ihre eigene Familie bzw. die Menschen, mit denen Sie zusammenleben.
Unabhängig von der Aufhebung des Versammungsrechts gelten natürlich auch während des Kontaktverbots die üblichen Ruhezeiten.
(5. April)
Viele Altenheimbewohner*innen sind besonders schwer von der Krise betroffen. Singen und Musizieren “auf Abstand” ist eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten, überhaupt in Kontakt und Dialog mit der Außenwelt zu treten. Immer mehr Musiker*innen engagieren sich deshalb in diesem Bereich.
Wir haben einen kleinen Leitfaden zusammengestellt, was man beachten sollte, um das Musizieren vor einem Seniorenheim für alle Beteiligten so bereichernd zu gestalten, wie nur irgend möglich.
>> Musizieren vor dem Seniorenheim – Ein Leitfaden
Als Straßenmusiker*in können Sie Menschen eine Freude machen. Aber Sie ziehen möglicherweise auch Menschen an. Damit tragen Sie die Verantwortung nicht nur für Ihren eigenen Abstand von diesen Menschen, sondern auch für den Abstand der Zuhörer*innen untereinander.
Auf keinen Fall dürfen Sie, so lange die strikten Kontaktbeschränkungen gelten, gezielt zu Ihrem Auftritt einladen.
Wer ein mobiles Instrument spielt, kann beim Spielen in Bewegung bleiben, um größere Gruppen zu vermeiden.
Wer stationär spielen möchte, sollte vorher unbedingt die örtliche Rechtslage klären >> siehe oben, sich ein Sicherheitskonzept zurechtlegen und es in Zweifelsfällen vorab mit Polizei oder Ordnungsamt besprechen.
Da die Kontaktregeln je nach Bundesland und Stadt unterschiedlich gehandhabt werden, ersetzen die nachfolgenden Tipps nicht eine solche Klärung der örtlichen Sicherheitsregeln.
Unser Tipp: Machen Sie Ihr Sicherheitskonzept zu einem festen Bestandteil Ihrer Auftrittsidee und „inszenieren“ Sie es in ihren Auftritt hinein. Auf diese Weise können Sie sogar ein Stück Aufklärungsarbeit in Sachen Virenschutz betreiben.
Zum Beispiel so: Markieren Sie mit Kreide oder Klebeband einen Kreis, in dessen Mitte sich Ihre „Bühne“ befindet. Wieviel Publikum bei einem Sicherheitsabstand von zwei Metern maximal zulässig ist, lässt sich mit der Formel „Radius mal pi“ berechnen. Beträgt die Entfernung zwischen Ihnen und Ihrem kreisförmig angeordneten Publikum drei Meter, dann beträgt der Kreisumfang 18,85m.
Es dürfen also maximal acht bis neun Personen im Kreis stehen. Bei vier Metern sind es elf bis zwölf Menschen, bei acht Metern 24 bis 25. Pärchen und Familien zählen zwar epidemologisch gesehen nur einfach, weil sie ohnehin zusammenleben, nehmen aber natürlich mehr Platz ein.
Versuchen Sie, Ihre 360-Grad-Bühne in alle Richtungen zu bespielen und behalten Sie Ihr Publikum im Blick. Sobald Sie sehen, dass ein Überschreiten der zulässigen Höchstzahl droht und die Menschen gleich zu dicht stehen werden, beenden sie ihr Spiel deutlich und signalisieren Sie freundlich, dass Sie erst dann weiterspielen können, wenn jemand den Kreis verlässt oder die Menschen den Abstand vergrößern.
Noch wirksamer ist es, wenn sich Ihr Sicherheitskonzept auch in der Musik selbst niederschlägt. Ein Beispiel:
Unsere „Moritat vom verarmten Musikus“, hier interpretiert von Kölns Straßenmusik-Legende Klaus der Geiger ist ein Beispiel, wie das aussehen kann. Text und Melodie zum Selbersingen gibt’s >> hier
Die Wiedergabe funktioniert nicht? Wir arbeiten daran. Hier gehts direkt zum Video
Sie verbringen (zu) viel Zeit zu Hause mit Ihren Kindern? Nehmen Sie sie mit und binden Sie sie ein. Lassen Sie sich als Cellist oder Saxophonistin von Blockflöte und Topfdeckeln begleiten oder umspielen Sie die ersten musikalischen Gehversuche Ihres Nachwuchses auf dem eigenen Instrument. Ihr Publikum wird begeistert sein und sich vielleicht ja sogar zu eigener Hausmusik inspirieren lassen.
Wichtig: Ihr Sicherheitskonzept muss auch mit Ihren Kinder abgesprochen und geprobt sein!
Aufgrund ihrer klanglichen Tragfähigkeit sind Blechblasinstrumente besonders gut dafür geeignet, größere Distanzen zu überbrücken. So kennt beispielsweise die alpenländische Musikkultur traditionelle Formen, die aus der Notwendigkeit heraus entstanden sind, große Distanzen musikalisch zu überwinden. Idealer Ausgangspunkt für phantasievolle Quarantäne-Musik: Jodler auf den Dächern einer Stadt; Signalrufe, die wie „Stille Post“ von einem Haus zum nächsten weitergereicht werden; Klangflächen, für die es niemanden braucht, der den Takt schlägt.
Was muss man beachten?
Seit Ende April / Anfang Mai liegen erste Experimente der Bamberger Symphoniker und des Karlsruher Instituts für Technologie zur Infektionsgefahr beim Spiel von Blasinstrumenten vor. Daraus lässt sich der vorläufige Schluss ziehen, dass die erforderlichen Mindestabstände je nach Instrument stark variieren. Der Grund dafür: Der Luftstrom wird in verschiedenen Instrumenten unterschiedlich stark abgebremst; die Ausbreitungscharakteristik des Aerosols kann sich dadurch stark unterscheiden. Wir empfehlen, die Sicherheitsabstände deutlich zu erhöhen und sich über den jeweils letzten Stand der Forschung zu informieren.
Der Komponist, Klangkünstler und Tubist Bernhard Thomas Klein hat uns einige Videos und Hörbeispiele zur Verfügung gestellt, mit denen er demonstriert, wie sich dieses Prinzip des Musizierens auf weite Distanz variieren lässt. Ausgangspunkt aller Beispiele ist ein dreistimmiger Jodler aus Österreich:
>> Partitur in B /// >> Partitur in C /// >> Partitur in Es /// >> Partitur in F
Die drei Stimmen lassen sich, wie gewohnt, synchron in gemeinsamem Tempo spielen:
Sie können aber auch “ungleichzeitig” und gegeneinander verschoben gespielt werden:
Weitere Möglichkeiten:
Mit Echo-Effekt >> Hörbeispiel
Gesungen >> Hörbeispiel
Mit Stimmen und Instrumenten gemischt >> Hörbeispiel
Gesungen mit Echo-Effekt >> Hörbeispiel
Als Klangteppich >> Hörbeispiel
Denkbar wäre auch, die musikalische Alpenlandschaft in die Stadt zu verlegen und beispielsweise von den Dächern verschiedener Häuser zu spielen. Das könnte dann zum Beispiel so klingen:
>> mehr zu Bernhard Thomas Klein
Fotos 1 und 3: Konfetti im Kopf, Foto Michael Hagedorn Foto 2: oakleaf streetshow, Foto Piet Koenekoop
Foto: © Michael Hagedorn und Piet Koenekoop