Trimum

TRIMUM - Musik weiter denken

Singen als interreligiöse Begegnung: Leseproben

Leseproben aus: “Singen als interreligiöse Begegnung – Musik für Juden, Christen und Muslime”, hg. von Bernhard König, Tuba Isik und Cordula Heupts, Verlag Ferdinand Schöningh (2016).

1) Wie Musik zur Versöhnung beitragen kann

aus: Ivo Markovic, “Unser Ziel sollte die Umkehr sein”. Der Pontamina-Chor in Sarajevo (S. 175-191)

Als der Krieg beendet war, kam ich nach Sarajevo und meine franziskanische Gemeinde beauftragte mich, etwas für die Versöhnung zu tun. Das Religiöse, das Nationale – all diese Identitäten sind geschlossen. Ich wollte ein Projekt machen, das die Leute positiv schockiert. (...) Unser Ziel sollte nicht nur die Schönheit sein, sondern die Umkehr. Und dafür startete ich das Projekt Pontamina; einen Chor, zu dem ich Juden, Muslime, Christen und Atheisten einladen wollte. Mein Ziel war, dass Vertreter der verschiedenen Religionen gemeinsam eine „Sinfonie der Religionen“ singen. (...) Auch wenn manche Katholiken die Muslime nicht mögen, so sollten sie doch respektieren, dass auch sie Gott suchen und ihr Verhältnis zu Gott reflektieren. Diesen gegenseitigen Respekt halte ich für extrem wichtig – gerade bei uns in Bosnien. Es ist bei uns nicht leicht, mit Muslimen orthodoxe Lieder zu singen. Manche Sänger, die im Krieg an der Frontlinie gewesen sind, wollten anfangs keine serbischen Lieder singen. Sie sagten, dass sie es physisch nicht ertragen können – so schrecklich waren die Kriegserinnerungen für sie. Man muss das verstehen. Aber wenige Monate später sagten die gleichen muslimischen Sänger: „Diese orthodoxe Musik ist so unwahrscheinlich schön!“. Können Sie sich vorstellen, was für eine tiefe Reinigung das für diese Menschen war? (...) Für viele war unser Projekt anfangs schockierend. Unser erstes, wirklich gefährliches Konzert hatten wir in Belgrad, in einem Theater vor 600 Leuten. Wir hatten Angst vor Ausschreitungen. Nach einem islamischen ilahi gab es unwahrscheinlich starken Applaus. Einer unserer muslimischen Sänger fragte mich: „Was ist das jetzt? Warum klatschen sie? Ist das ein Spiel, eine Provokation?“. Aber diese Leute waren aufrichtig. Sie hatten den Islam gehasst, aber nun entdeckten sie, wie nahe er ihnen war. Man kann den Leuten viel Theoretisches vom Islam erklären. Aber wenn sie ein islamisches Lied hören, als Teil einer „Sinfonie der Religionen“, dann spüren sie diese Nähe. (...) Musik hat einen größeren Einfluss, als wir es denken. Einen unbewussten Einfluss, sie kann die Seelen heilen. Wir kamen einmal in eine Stadt, in der es viele kroatische Nationalisten gab. An einer Kaffeebar hing ein bedrucktes Schild: „Verboten für Hunde und Muslime“. Wir kamen dort hin, einige Sänger und ich, und sie fragten mich, was wir jetzt tun sollen. Ich sagte: „Wir sind hier, um Kaffee zu trinken – also lasst uns Kaffee trinken“. Wir haben nicht über dieses Schild gesprochen, aber wir haben die Leute zu unserem Konzert eingeladen. Am nächsten Tag hat mich der Eigentümer des Cafés angerufen und sich entschuldigt: Er habe das Schild von seinem Café entfernt. Das ist die Kraft der Musik.

2) Warum in unseren Konzertsälen mehr Koranrezitationen erklingen sollten

aus: Bernhard König, Unüberbrückbar fern? Bachs Musik im christlich-muslimischen Dialog (S. 145-174)

In einer Gesellschaft, die ihre eigene kulturelle Vielfalt als positiven Wert zu erkennen beginnt, sollte „Musikvermittlung“ keine one-way-Veranstaltung sein. Es kann nicht nur darum gehen, ausschließlich die eigenen kulturellen Inhalte und Interessen ins Zentrum zu rücken. Je bunter unsere Gesellschaft wird, umso mehr schwingt in der einseitigen „Hinführung“ an die Werke der europäischen Tonkunst ein problematischer Exklusivismus mit, der die eigene Überlieferungstradition als wertvoll und vermittlungswürdig erachtet und dabei Gefahr läuft, andere kulturelle Wertesysteme unterschwellig abzuwerten. Die Herkunftskultur der eingewanderten Vorfahren wird zu einem bloßen kulturellen „Hintergrund“, der nur so lange von Interesse ist, wie es ein junges Nachwuchspublikum möglichst effizient von dort „abzuholen“ gilt.
Vollends zur Gratwanderung wird diese Art von interkultureller Musikvermittlung, sobald die Ebene des Religiösen ins Spiel kommt. Dies bedeutet nicht, dass ich die christlichen „Klassiker“ als ein zu pflegendes und zu vermittelndes Bildungsgut abschaffen will. Doch ich bin der Überzeugung, dass diese Vermittlung einer neuen Verortung und Zielsetzung bedarf. Sie dürfte nicht länger einseitig auf das „Publikum von morgen“ schielen und ihren Erfolg primär an der Fortschreibung und maximalen Verbreitung der eigenen Traditionen und Inhalte messen, sondern sie müsste sich radikal der Begegnung verschreiben. Dies aber bedeutet, dass die religiöse Dimension dieser „Klassiker“ gerade hier nicht negiert werden sollte; dass Bachs Musik gerade hier nicht zur säkularen Tonkunst umgedeutet, sondern als protestantische Musik in neue, interreligiöse Kontexte gestellt werden sollte. Statt „die“ eine Musikkultur zu vermitteln, könnte auf diese Weise zwischen den religiösen und säkularen Kulturen vermittelt werden – in einer Gegenwart, die tagtäglich vom Aufeinandertreffen unterschiedlichster kultureller Welten und Werte geprägt ist.
Fremdheitsgefühle und das Insistieren auf kultureller Abgrenzung und Eigenständigkeit sind (erst recht, wenn es um Religion geht) naheliegende und bis zu einem gewissen Punkt normale Begleiterscheinungen dieses Aufeinandertreffens. Sie durch gepuderte Perücken und andere gut gemeinte Partizipationsangebote „wegvermitteln“ zu wollen, kann – zumindest unterschwellig und unbeabsichtigt – den Eindruck wecken, man wolle die religiöse Ästhetik des oder der Anderen in Frage stellen. Womöglich ist die beiderseitige Fremdheit ein stabilerer Ausgangspunkt. Wenigstens sie stellt dann eine erste Verbindung her; wenigstens sie ermöglicht ein erstes Miteinander auf Augenhöhe. Denn so fremd einer traditionell geprägten Muslimin die religiöse Musik Johann Sebastian Bachs sein mag, so fremd und so wenig erfahrbar ist auch für mich als säkularisiertem Christen die Vorstellung einer Vergegenwärtigung Gottes in der Koranrezitation. Weder vermag ich den Glauben an einen unmittelbar göttlichen Ursprung dieser Gesangsform zu teilen, noch bin ich in der Lage, mein eigenes Musiker-Ohr abzuschalten und die Rezitation als ein „kategorisch Anderes“ zu hören. Für mich selber ist und bleibt der Koran „Musik“. Dies alles ändert aber nichts an meinem Respekt, meiner großen Faszination und fast schon Ehrfurcht gegenüber einer Kunstform, die mit einem solch heiligen Ernst betrieben wird und der von den Gläubigen eine derartige transzendente Bedeutung beigemessen wird. Ich wünsche mir deshalb, dass ich hierzulande die Gelegenheit erhalte, als „musikalisch hörender“ Gast an diesem Gebet partizipieren zu dürfen.
Umgekehrt möchte ich meine muslimischen Mitmenschen dazu einladen, das in meinen Ohren Schönste mitzuerleben, das die christliche Kultur hervorgebracht hat: Die Musik Johann Sebastian Bachs. Diese Einladung zum Miterleben bedeutet dann aber gerade nicht, dass ich meinen muslimischen Gästen diese Musik mit allerlei pädagogischen Hilfsmitteln nahezubringen und „leicht zu machen“ versuche. Es bedeutet erst recht nicht, dass ich mir von vorneherein das Ziel setze, sie mögen sich diese Musik doch nun bitte endlich zu eigen machen, weil sie andernfalls kulturell nicht auf der Höhe seien. Statt also einen „Bach für alle“ zu propagieren, bringe ich Bachs Musik als einen exklusiv protestantischen Beitrag in die Begegnung ein: Als das schönste und wertvollste Gastgeschenk, das meine religiöse Herkunftskultur zu bieten hat. Eine solche Einladung, ein solches wechselseitiges Zu-Gast-Sein aber bräuchte einen Ort. Einen Ort, der neutral und mehrdeutig genug ist, um nicht von vorneherein den einen auf die Rolle des Gastes festzulegen und die andere auf die der Gastgeberin. Einen in viele Richtungen einladenden Ort, an dem ästhetische „Fremdheit“ und „Vertrautheit“ keine Zugehörigkeitsmaßstäbe sind, sondern gleichermaßen wertvolle und einander ergänzende Qualitäten. Einen Ort, an dem es genauso möglich und üblich ist, Verständnisbrücken zu bauen, wie auf jede Belehrung und Erklärung zu verzichten. An dem die Neugierigen und die Betenden einander nicht stören, einschränken oder beklommen machen. An dem Dissonanzen hoch willkommen sind und Fremdes als Bereicherung gilt. Man muss diesen Ort nicht neu erfinden. Es gibt ihn bereits. Es gibt ihn hierzulande sogar so oft wie in keinem anderen Land auf der Welt. Deutschland ist voller Konzertsäle. Sie könnten zu Zentren der interreligiösen Begegnung werden.

3) Warum wir mehr deutschsprachige islamische Lieder brauchen

aus: Tuba Isik, Warum Muslime gerne singen! (S. 175-191)

In Deutschland leben ca. 4,5 Millionen Muslime. Ca. 2 Millionen weisen türkische Wurzeln auf und die restliche Zahl setzt sich zusammen aus Menschen mit unterschiedlichen Herkunftsländern oder es handelt sich um autochthon Deutsche. Das würde bedeuten, dass kulturell betrachtet (und theologisch ebenso) es sich nicht um eine monolithische Gemeinschaft handelt, sondern Muslime ihr kulturell jeweils unterschiedlich geprägtes Selbstverständnis ihrer Religion und somit auch musikalischen Tradition oder Prägung mitbringen. Diese Faktizität müssen wir uns in der Begegnung mit Muslimen immer wieder vergegenwärtigen.
Wenn man eine Aussage oder eine Bewertung über Musik machen möchte, sollte man bei kulturellen und ethnischen Ver- und Beurteilungen vorsichtig sein, denn Musik ist sehr subjektiv und ist geprägt durch die örtliche Kultur und die Gegebenheiten, durch die Präferenzen der Menschen u.ä.. Mit Blick auf Deutschland bedeutet das, dass viele unterschiedliche kulturelle Handlungsräume sowie Bildungseinrichtungen wie Theater oder Konzertsäle mehr denn je nach interreligiöser (sowie interkultureller) Begegnung verlangen. Denn Musik und das Hören von Musik ist für die meisten deutschen Bürger ein Bestandteil ihres Alltages und ihrer Kultur. Musik wird als ein charakteristisches Merkmal deutscher Kultur gezählt. Sofern der Muslim/die Muslimin die örtliche Kultur und die Gegebenheiten als Bereicherung oder auch als positive Herausforderung betrachtet, wird er seinen Lebenskontext mit seinem Glauben synthetisieren können. Theologisch spräche nichts dagegen, da die örtliche Kultur, Arabisch ‘urf, mitunter eine wichtige Bezugskoordinate für Rechtsentscheidungen bildet. (...)

Religiöse Musikvermittlung auf Deutsch im Islamischen Religionsunterricht kann ein Weg sein, um die Prägung und Verwurzelung einer deutschen Lebensweise des Islam zu unterstützen. Dazu ist es jedoch notwendig, dass sich Muslime von ihrem Reflex der Abgrenzung im Sinne einer Betonung von Anderssein sukzessive lösen. Der renommierte und bereits verstorbene Pädagoge Klaus Mollenhauer formulierte im Zusammenhang mit Ästhetischer Erziehung einst sehr trefflich, dass es ihr Ziel sei, die ästhetischen Zeichen einer Kultur in bestimmter Weise lesen zu können. So stellt die Quranrezitation eines der ästhetischsten Momente der islamischen Kultur dar und würde sich auch als ein Startpunkt anbieten, um über (Sprech-)Gesang, Vertonung sowie Musizieren insgesamt zu sprechen. Aus den Heimatländern ihrer Eltern stammende und bekannte (religiöse) Lieder, Musikstücke, religiöse Gesänge, Eulogien könnten durch eine neue kulturelle sowie musikalische Kontextualisierung Anreize für neuwertige Vertonungen, Improvisationen u.ä. führen sowie den Blick für das musikalisch Andere öffnen. (...)

Aktuelle Schul-Curricula-Forschungen über osmanische Schulcurricula oder die wichtigsten islamischen Bildungszentren des 11. und 12. Jahrhunderts in Bagdad oder Damaskus bspw. zeigen, dass damals nicht nur auf religiöse Elementarbildung ein großer Wert gelegt wurde, sondern viele weitere Fächer der „Allgemeinbildung“ ihren Stellenwert besaßen. Ferner lässt sich für das Osmanische Reich nachweisen, dass Musik als Unterrichtsfach Mitte des 19. Jahrhunderts Einzug in die Schulen erhielt, während schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts Kinder Musikunterricht an den Herrschaftspalästen erhielten. Die zentrale Rolle der Musik im sufischen Mevlevi-Orden scheint hierbei einen enormen Einfluss auf die Musikkultur an den Sultan-Höfen sowie in der Gesellschaft gehabt zu haben, da die Privatlehrer, die in den Palästen ein- und ausgingen, hauptsächlich in diesen Orden ausgebildet wurden. Die unterschiedlichen Musik-Genres der Gegenwart der der heutigen Türkei oder auch in Ägypten sind das Erbe einer reichen und bunten Musikkultur der Vergangenheit. Summa Summarum kann festgehalten werden, dass musikalische Bildung seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum Bildungskanon vieler islamisch geprägter Länder gehört.

Der Einsatz von Musik, das Liedersingen, gemeinsames Musizieren und der spielerisch experimentelle Umgang eröffnen Kindern diverse Lernprozesse. Allein das Singen in deutscher Sprache, fördert das Gefühl der kulturellen sowie religiösen Beheimatung, stärkt das Gefühl, mit seiner Religion ein wertgeschätzter Teil dieser Gesellschaft und dieser Kultur zu sein.

4) Warum es die Musik Johann Sebastian Bachs ohne den Islam nie gegeben hätte

aus: Bernhard König, Unüberbrückbar fern? Bachs Musik im christlich-muslimischen Dialog (S. 145-174)

Man kann den Überlieferungsweg des pythagoräischen Weltbildes „von der Spätantike, also von Boethius bis zu Andreas Werckmeister“ als ein Geschehen innerhalb der christlich-europäischen Kultur betrachten und diesen Aspekt des Bach’schen Komponierens als Teil eines großen europäischen Erbes verstehen. Die Geschichtsschreibung hat dies lange Zeit getan – unser schulisch vermitteltes Geschichtsbild ist teilweise noch heute von dieser direkten Verknüpfung des heutigen Europas mit seinen „antiken Wurzeln“ geprägt. Im Falle der Musik trug diese Abgrenzung zwischen einer eindeutig abendländischen und einer (für die Musikgeschichte Europas vermeintlich irrelevanten) orientalischen Tradition mit dazu bei, einen kulturellen Überlegenheitsanspruch zu unterfüttern, der durchaus Spuren kolonialistischen Denkens in sich trägt: Wer alle äußeren Einflüsse ausblendet, für den ist es leichter, die europäische Musik mit ihrem „spezifischen Theoriecharakter“ gegenüber der „chinesischen, indischen und arabisch-islamischen“ als objektiv „überlegen“ darzustellen und ihr zu attestieren, sie tendiere deshalb aus gutem Grund „zur Herrschaft“ über die außereuropäischen Musikkulturen.
Doch wenn man den Blick ein wenig weitet, stellt man fest: Es ist kein eindeutig europäisches oder gar christliches Erbe, in dessen Tradition Bach hier steht. Der Weg von Pythagoras zu Bach war alles andere als geradlinig – und er überschritt immer wieder die Grenzen des heutigen Europas. Schon lange vor Pythagoras kannten die alten orientalischen Kulturen „den Gedanken, daß ‚heilige‘ Zahlen die Klammer des Alls bilden“ und dass diese Zahlen dieselben seien, „wie die Verhältniszahlen der Musik“. Und auch der Transfer des antiken Weltbildes in die frühe Neuzeit Europas geschah auf einer Vielzahl von parallelen und verschlungenen Pfaden, quer durch die Kontinente, Sprachen und Religionen: Eine Jahrhunderte lange Wanderung von kollektivem Wissen, das beständig erweitert, übersetzt, abgewandelt und kommentiert wurde und den gesamten Mittelmeerraum und Kleinasien miteinander verband. So wurde das pythagoräische Weltbild mitsamt seiner Deutung der Musik als Mittlerin zwischen Kosmos und Mensch in der Spätantike und im frühen Mittelalter sowohl von christlichen Neuplatonikern wie Boethius als auch von islamischen Universalgelehrten wie al-Kindi aufgegriffen. Die auf diesem Weltbild basierende hippokratisch-galenische Medizin, in der die therapeutischen Wirkungen von Musik eine wichtige Rolle spielte, wurde bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed von persischen und arabischen Ärzten praktiziert und verbreitete sich über die gesamte islamische Welt. (...)

Ähnlich verhielt es sich auch in den anderen Wissenschaften: Immer wieder waren es arabische und jüdische Gelehrte, Übersetzer und Philosophen, die an entscheidender Stelle für die Wiederbelebung und Weitergabe des antiken Wissensschatzes sorgten – so auch in der Astronomie, die in der Frühzeit des Islam große Wertschätzung genoss und deren europäische Vertreter bis ins 18. Jahrhundert hinein von den Schriften und Berechnungen arabischer Himmelsforscher beeinflusst waren. (...) Bereits zu Lebzeiten des Propheten wurden Koranrezitationen sowohl rezeptiv als auch aktiv „zur Heilung von Beschwerden körperlicher oder seelischer Art“ eingesetzt. Liegt also jenen arabischen maqāmāt, die noch heute die tonale Grundlage für die Koranrezitation bilden, im Kern das gleiche Verständnis von Harmonie, Proportion und „musikalischem Ethos“ zugrunde, das auch das Kompositionshandwerk eines Johann Sebastian Bach geprägt hat? (...)

Ob Bachs Musik und die Koranrezitation tatsächlich auf die von mir dargestellte Weise miteinander verbunden sind, kann ich letztlich nicht „beweisen“. Aber ich möchte mit meiner Assoziationskette den Blick und das Ohr dafür schärfen, dass aus der fundamentalen Verschiedenheit dieser klingenden Glaubenszeugnisse nicht zwangsläufig geschlossen werden muss, dass zwischen ihnen keinerlei Verwandtschaft denkbar wäre. So wie die drei monotheistischen Religionen durch den gemeinsamen Bezugspunkt des „einen Gottes“ miteinander verbunden sind, so sind sie möglicherweise auch auf ästhetischer Ebene durch ein Verständnis von Klang und Musik verbunden, das im antiken Denken wurzelt: In einem Weltbild, das dem harmonischen Klang und dem gesungenen Wort eine transzendente Qualität als Mittler zwischen kosmischer und körperlich-seelischer Harmonie – oder, in monotheistischer Lesart: zwischen Gott und den Menschen – zuerkennt. Und in einem daraus resultierenden ästhetischen Wertesystem, das diese positive, heilende und ethische Wirkung an eine „einzig richtige“, gottgefällige, den Gesetzen der Harmonie entsprechende Ausgestaltung knüpft, über die es zu wachen und die es als wertvolles Erbe an kommende Generationen weiterzugeben gilt. Ausgehend von dieser grundlegenden und tiefen Verbundenheit hat sich dann im Lauf der Geschichte eine atemberaubende Vielfalt aufgefächert, in der sich durchaus die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Religionen widerspiegeln. Im kunstvollen Kompositionshandwerk eines Johann Sebastian Bachs und in der „unerschaffenen“ , direkt von Gott geoffenbarten Koranrezitation hat diese Auffächerung zwei extrem weit auseinander liegende Pole erreicht: Auf der einen Seite das Dogma der „Unnachahmlichkeit und Einzigartigkeit“ einer einstimmig und unbegleitet vorgetragenen Rezitation, in der sich der islamische Glaube an den einen, unteilbaren und allmächtigen Gott widerspiegelt. Auf der anderen Seite die Vielgestaltigkeit menschlich gestalteten Gotteslobs im Christentum (...).

Streng theologisch betrachtet werden sich Bachs Musik und die Koranrezitation nie „auf Augenhöhe“ begegnen können. Auf einer ästhetischen Ebene aber kann ihr Zusammentreffen sehr viel mehr darstellen, als bloß konturlose „Vielfalt“ und ein respektvolles, aber letztlich verbindungsloses „Nebeneinander“. In einer Zeit, in der die christlich-islamische Begegnung allzu oft von Vorbehalten und Fremdheitsgefühlen geprägt ist, könnte ein solches Zusammentreffen im Konzertsaal dem vergleichenden und zugleich kontemplativen Hören eine tiefe Verbindung und entfernte Verwandtschaft eröffnen, die sich sonst (wofür dieser Text ein Beispiel ist) allenfalls in Form von abstrakten Gedankengängen vermitteln lässt. Auf diesem Weg kann nicht nur das Fremde vertrauter werden, sondern es kann zugleich auch das Eigene, scheinbar Vertraute zum Gegenstand neuer Zugänge und eines neuen Entdeckens werden – darunter etwa auch das Entdecken eines Johann Sebastian Bachs, in dessen Musik nicht nur mittelalterliche Zahlenmystik und Luthersche Theologie nachklingen, sondern in Spurenelementen auch arabische Heilkunst aus Kairo und Damaskus, sephardisches Übersetzerhandwerk aus Cordoba und Toledo, die jüdisch-islamischen Diskurse eines Moses Maimonides und das uralte astronomische Wissen des Pythagoras und seiner altorientalischen Vorläufer.
„Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt“, heißt es in Sure 49. Nicht nur die Anderen dürfen wir in dieser Begegnung der Völker und Stämme kennenlernen, sondern auch uns selbst.

5) Kann Musik einer Rolle im jüdisch-islamischen Dialog spielen?

aus: Musik in Zeiten des Krieges. Jüdisch-muslimische Begegnungen. Gespräch zwischen Ahmet Gül, Tuba Isik, Assaf Levitin, Saad Thamir und Alon Wallach.

BERNHARD KÖNIG: Wir arbeiten jetzt seit rund einem Jahr bei Trimum zusammen – manche von euch kürzer, manche etwas länger. (...) Welche Rolle kann die Musik, kann ein Pojekt wie Trimum aus eurer Sicht für den jüdisch-islamischen Dialog spielen?

ALON WALLACH: Für mich hat das viel zu tun mit der Frage: Wozu ist Musik überhaupt da? Musik an sich ist vielleicht gar nicht so wichtig, wie sie uns Musikern immer erscheint. Aber sie hat eine Art geistige, heilende Wirkung. Viele Menschen, die sich mit Musik beschäftigen, tun dies nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen dieser heilsamen Wirkung. Weil sie zum Beispiel irgendeinen Konflikt haben. Ich denke, dass der jüdisch-muslimische Dialog etwas ist, das derzeit ziemlich krank ist. Als Juden und Muslime sind wir – vor allem in meinem Heimatland, in Israel – noch nicht darauf vorbereitet, uns mit den echten Themen auseinanderzusetzen. Weil wir alle emotional viel zu stark verstrickt sind und viel zu viele Konflikte haben. Wir sind noch nicht auf der Ebene, wo wir ernsthaft darüber diskutieren können, was wir tun können oder wie wir die politische Situation lösen können.

AHMET GÜL: Ich weiß nicht, ob wir überhaupt irgendwas lösen müssen oder können. Vieles lässt sich nicht lösen, vor allem was religiöse oder politische Meinungsverschiedenheiten anbelangt. Aber man kann auch durch die Musik selbst eine Botschaft versenden. Wenn wir aufgrund der Musik zusammenkommen und miteinander musizieren, dann vermittelt sich dieses Gemeinsame auch unseren Zuhörern.

ALON WALLACH: Ich glaube, wenn Musik in diesem Konflikt überhaupt irgendeine Daseinsberechtigung hat, dann vielleicht diese: Dabei mitzuhelfen, diese emotionalen Konflikte, die sich über die letzten Jahrzehnte aufgebaut haben, ein klein wenig zu lindern. Wenn sich dann nach – hoffentlich – vielen Gesprächen und vielen solcher Projekte das emotionale Chaos etwas beruhigt hat, dann wird man vielleicht irgendwann auch in der Lage sein, über die wirklichen Konfliktthemen zu sprechen.

TUBA ISIK: Dass denke ich auch: Dass ein gemeinsames Singen noch einmal eine ganz andere Ebene sein kann, um miteinander ins Gespräch zu kommen, um sich überhaupt zu begegnen, sich näher zu kommen und auf diese Weise eine freundschaftliche Ebene für den weiteren Dialog zu schaffen. Da kann Musik schon so etwas wie ein universales Bindemittel sein.

BERNHARD KÖNIG: Kann sie das wirklich? Mein Eindruck ist: Religiöse Musik trennt eher, als dass sie verbindet. Warum sollte ausgerechnet sie dann ein geeignetes Medium für einen außermusikalischen Dialog sein, der ohnehin extrem schwierig ist?

SAAD THAMIR: Ich habe mich das schon oft gefragt: Warum mache ich das? Warum begegnen wir uns? Warum arbeite ich jahrelang an einer interreligiösen Komposition und am Ende habe ich nichts verdient, sondern dreitausend Euro hineingesteckt? Irgendwann habe ich erkannt: Ich tue das, weil wir im Krieg sind. Wir sehnen uns nach Frieden, weil wir im Krieg sind. In einer blutigen Tragödie aus Angst, Hass, Agression und Wahnsinn. Und deswegen reagieren wir mit unserer Musik auf das, was da passiert. Ich habe vieles von diesem Krieg gesehen. Juden und Muslime bringen sich gegenseitig um, ohne sich zu kennen und ohne die diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen.

ASSAF LEVITIN: Wen du kennst, den bringst du nicht um. (...)

SAAD THAMIR: (...) Ich habe einen Film im Kino gesehen, über Israel. Und da wird ein israelisches Kind interviewt und gefragt: „Wer sind denn diese Palästinenser?“ Das Kind sagt: „Die sind alle Teufel und müssen weg“. Wenn ich das höre, dann spielt es keine Rolle mehr, an welche Religion ich glaube oder welcher Religion dieses Kind angehört. Ich muss dieses Kind retten. Es darf nicht so erzogen werden, dass es ein Ungeheuer und ein Mörder wird. Und das gilt für alle Seiten. Als wir Kinder waren, haben auch wir gedacht, dass die Juden Hörner haben wie ein Teufel. Wir kannten keinen einzigen Juden – aber das war das Bild, das uns die Gesellschaft vermittelt hat. (...)

BERNHARD KÖNIG: Und ist nicht dieses Gewaltsame bereits in unseren Religionen angelegt? Ich bin Protestant. Martin Luther, der Begründer meiner Konfession, war ein schlimmer antijüdischer und anti-islamischer Hetzer. Und er hat das alles theologisch begründet. Es wird einem übel, wenn man diese Hasspredigten liest. (...)

TUBA ISIK: Alle Heiligen Schriften haben gewaltverherrlichende Verse; der Knackpunkt ist, ob der Leser sie als Aufruf an sich selbst versteht. Wenn ich diese Quranstellen in ihrem historischen Kontext lese, dann haben sie für mich heute keinen Gegenwartsbezug, sondern sind historische Nacherzählungen. Problematisch wird es in dem Moment, wenn ein Selbstmordattentäter oder Möchtegern-Dschihadist sagt: Diese Stelle hier, dieser Aufruf zur Gewalt, gilt auch für mich heute noch. In diesem Moment wird der Quran fundamentalistisch gelesen und somit missbraucht, um eine Gewalttat zu plausibilisieren: „Hier steht es doch. Tötet sie überall wo ihr sie findet.“

BERNHARD KÖNIG: Aber wenn es doch die Religionen selbst sind, die all diese Konflikte überhaupt erst in die Welt bringen – welchen Sinn hat dann ein interreligiöses Musikprojekt? Sollten wir Musiker dann die Religion nicht lieber ganz beiseite lassen?

TUBA ISIK: Nein, weil wir ja gerade auf diese Weise gemeinsam zeigen können, dass die Religionen nicht nur Konfliktpotential, sonden auch ein friedensstiftendes Potential haben und dass es die Menschen sind, die die Heiligen Schriften positiv oder negativ zum Sprechen bringen.

SAAD THAMIR: Der Sinn von Trimum ist, dass wir uns hier, als Menschen dieser verfeindeten Religionen, miteinander unterhalten. Die gesamte Maschinerie können wir nicht stoppen. Aber Assaf und ich, er als Israeli und ich als Iraker, können den Leuten zeigen, dass wir beide es geschafft haben. Auf musikalischer Ebene. Das meine ich, wenn ich sage, dass wir als Musiker einen Ruf schaffen können.

TUBA ISIK: Vielleicht auch – gerade weil ihr Musiker seid – im Sinne einer Wiederbelebung all der verloren gegangenen Traditionen, die wir schon einmal hatten. Denn genau dort wird dieses Friedenspotential ja erkennbar. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts haben in Palästina alle miteinander in Frieden gelebt. Und wir kennen das spanische Andalusien, wo es ebenfalls keine Glaubenskonflikte gab.

ALON WALLACH: Wenn man sich die Sache vor diesem geschichtlichen Hintergrund anschaut, dann muss man denken, dass wir alle verrückt sind. Denn eigentlich hat ja der jüdisch-islamische Dialog eine viel längere und viel friedlichere Tradition als der jüdisch-christliche Dialog…

SAAD THAMIR: … oder der islamisch-christlich.

ASSAF LEVITIN: Das ist es, was ich vorhin meinte, als ich sagte: Es gibt gar nicht diese klaren Grenzen. Unsere Kulturen sind sich so unglaublich nah. Maimonides, der vielleicht größte jüdische Denker aller Zeiten, hat auf Arabisch geschrieben. Im Yemen gibt es synagogale Gesänge, die zu hundert Prozent aus der arabischen Tradition kommen. Es gibt Melodien, die aus dem Irak kommen und heute noch in der Synagoge gesungen werden…

SAAD THAMIR: ... Und es gab in der traditionellen irakischen Musik in bestimmten Maqamat Abschnitte, die nur auf Hebräisch gesungen wurden. Auch in muslimischen Liedern.

ALON WALLACH: Maimonides ist für mich ein Paradebeispiel. In Israel kennt man ihn nur unter seinem hebräischen Namen: Rabbi Moshe ben Maimon. Als „Maimonides“ ist er völlig fremd – und noch weniger bekannt ist sein arabischer Name. Warum wissen wir in Israel nicht, dass Juden über Jahrhunderte Arabisch gesprochen, geschrieben und gelesen haben? Warum wissen wir nicht, dass einige unserer wichtigsten Denker von Muslimen beeinflusst und inspiriert wurden? Muslime, Christen und Juden müssten mit einem Bewusstsein dafür aufwachsen, dass unsere Geschichten ineinander verwoben und voneinander abhängig sind. Ich bin überzeugt davon, dass dann eine deutlich besser informierte, tolerantere und somit auch glücklichere Generation heranwachsen könnte.

ASSAF LEVITIN: Wir müssen also bei Trimum gar nicht unbedingt so viel Neues erfinden; es gibt all diese Querverbindungen bereits. Ich würde mir wünschen, dass ihr Christen ebenfalls danach sucht und auch eure Traditionen erforscht. Es kommt mir so vor, als ob ihr diese Arbeit bei Trimum komplett uns Juden und Muslimen überlasst. Jesus zum Beispiel hat wahrscheinlich Aramäisch gesprochen. Das ist sehr nah am Arabischen und am Hebräischen, auch die Gesänge ähneln sich sehr.

TUBA ISIK: Ich glaube, das Entdecken und Darstellen dieser Querverbindungen ist etwas sehr Trimum-Spezifisches: Dass es eine ständige Wechselwirkung gibt zwischen der Auseinandersetzung mit dem Fremden und dem Eigenen. Das gilt nicht nur für die Musik, sondern auch für das wechselseitige Verständnis der Religionen. Ihr seid Musiker und begegnet euch in der Musik. Aber in dem Moment, wo ihr den Aspruch formuliert, dass wir „interreligiös“ miteinander singen, müssen wir auch über die Inhalte reden. Und dieser Dialog bedeutet, dass ich meine eigene Position noch einmal neu formuliere, indem ich den Anderen mit seiner Tradition kennenlerne, und somit bewusster beginne, mich mit der eigenen auseinanderzusetzen.

6) Die klassische Konzertkultur: Eine jüdisch-christliche Gemeinschaftserfindung?

aus: Bernhard König, Schmerzhaft nah. Bachs Musik im christlich-jüdischen Dialog (S. 79-102)

Es ist kein Zufall, dass die Entstehung der Konzertkultur und die Emanzipation des deutschsprachigen jüdischen Bürgertums zeitlich zusammentreffen. Sie sind Produkte ein- und desselben aufklärerischen Geistes. Anders als in der Kirche, in der Synagoge oder im aristokratischen Hofkonzert unterscheidet diese neue Form des öffentlichen Musikgenusses nicht mehr zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Juden und Christen, Adligen und Bürgern. Sie ist, ihrem eigenen Anspruch zufolge, „für alle da“. Ihr ideeller Kern ist nicht exklusiv, sondern partizipativ: Jede und jeder soll teilhaben können, ohne Ansehen von Religion und Geschlecht. Dieser Partizipationsanspruch ist keine Nebensächlichkeit, sondern stellt ein zentrales und entscheidendes Motiv dieser neuen, bürgerlichen Rezeptionsform dar.
In der Umdeutung Johann Sebastian Bachs von einem „exklusiv“ christlichen zum „universalen“ Komponisten wird dieser Anspruch besonders handgreiflich – und erhält zugleich eine eindeutig interreligiöse Komponente. Das Konstrukt eines universalen, quasi „überreligiösen“ Bachs wäre ohne ein emanzipiertes, musikbegeistertes und aktiv um kulturelle Teilhabe bemühtes Judentum weder nötig noch denkbar gewesen. Bachs jüdische Rezeption wird zum Musterfall dafür, dass selbst eine eindeutig religiöse Musik im emphatisch-aufklärerischen Sinne „konzerttauglich“ sein kann. Dass auch sie „für alle da sein“ und als autonome und universale Musik gehört werden kann, wenn ihre innere Qualität und Schönheit dies rechtfertigt.
Mit seinem wirkungsästhetischen Modell einer „vermischten Empfindung“ hat Moses Mendelssohn eine solide theoretische Grundlage für diese Bach-Rezeption jenseits des Kirchlichen geschaffen: Ein Modell, das den Musikhörer nicht mehr distanzlos den musikalisch dargestellten Inhalten und Affekten ausliefert, sondern das ihn die musikalische Struktur, die Machart, das Kunstvolle bewusst mithören lässt. Dass diese aufklärerische Neuinterpretation von Musik kein bloßes Gedankenspiel ist, sondern sich in eine reale Rezeptionshaltung übersetzen lässt, beweist niemand besser als jene jüdischen Arztgattinnen und Kaufmannsfrauen, die zu jener Zeit mit ihren Lesegesellschaften und Abendsalons das gesellschaftliche Leben Berlins prägen. Sie umgeben sich mit Literaten und Philosophen, lesen Poesie, spielen Theater und diskutieren die philosophischen Schriften Mendelssohns und Kants. Sie treiben Bachs Wiederentdeckung als musikalischen „Klassiker“ voran. Und, viel wichtiger noch: sie singen christliche Musik. Tragen dazu bei, dass in Berlin der vermutlich erste gemischt-religiöse Chor der jüngeren Musikgeschichte entsteht – und werden auf diese Weise zu wahren Pionierinnen unserer modernen Konzertkultur. (...)
1749 wird in Berlin die „Music=übende Gesellschaft“ gegründet, ein Zusammenschluss von Berufsmusikern und Musikliebhabern aus Adel und Bürgertum, der später in die Berliner Sing-Akademie übergeht. Am Karfreitag des Jahres 1755 führt der Chor erstmals die Passionskantate „Der Tod Jesu“ von Carl Heinrich Graun nach einem Libretto von Carl Wilhelm Ramler auf: Ein unerhört populäres Werk, das fortan fast ein dreiviertel Jahrhundert lang alljährlich auf dem Spielplan des Berliner Chores stehen wird. Ramlers Textbuch greift das Stereotyp von den Juden als Gottesmörder auf, die sich „voll Mordlust“ und „mit unerhörtem Grimme“ am Tode Jesu berauschen.
Spätestens seit den 1790er Jahren wirken auch Sara Levy und andere jüdische Sängerinnen und Sänger an den Aufführunge mit. Ob die „direkt judenfeindlichen Töne“ bei ihnen Widerstand oder zumindest Irritation auslösten, ist nicht überliefert; darüber, wie ihnen beim Singen zumute war, kann nur spekuliert werden. Fühlten sie sich brüskiert vom Stereotyp der jüdischen Mordlust? Empfanden sie die entsprechenden Passagen als persönlich diskriminierend? Oder war es ihnen ohne größeren inneren Konflikt möglich, von den Inhalten des Gesungenen zu abstrahieren und diese Passionsmusik einzig und allein aus Liebe zur Musik und um der „Erhaltung und Belebung echten Kunstsinns“ willen aufzuführen? In diesem Falle hätten sie über ein beträchtliches Maß an sängerischer Rollendistanz verfügt: Eine Haltung, die – wie man an den Reaktionen mancher Zeitgenossen ablesen kann – zur damaligen Zeit noch alles andere als selbstverständlich war. (...)
Wir kennen nicht die Beweggründe und das Selbstverständnis der damaligen jüdischen Oratoriensängerinnen – aber es kann vermutet werden, dass es nicht Gedankenlosigkeit war, die sie dieses christliche Oratorium mitsingen ließ, sondern dass sie diese mehr als ungewöhnliche Entscheidung gründlich reflektieren. So scheint es, wenn man diese beiden Vermutungen zusammennimmt, kein ganz abwegiger Gedanke zu sein, dass zwischen Mendelssohns ästhetischen Überlegungen und den realen interreligiös-musikalischen Aktivitäten in seinem Umfeld ein direkter Zusammenhang bestanden haben könnte: Die Grunderfahrung von eingeschränkter Zugehörigkeit oder offener Ausgrenzung könnte es nahelegt haben, über eine Ästhetik nachzudenken, die nicht auf uneingeschränkter Identifikation fußt, sondern auch andere Formen der Teilhabe kennt und begründet. Umgekehrt könnte es eine solche, ästhetisch begründete Rollendistanz dann auch in der Praxis einfacher gemacht haben, inhaltliche Dissonanzen um der Kunst willen in Kauf zu nehmen – ja, sie vielleicht sogar regelrecht zu zelebrieren, weil diese eigene Fähigkeit zur inhaltlichen Distanzierung bei gleichzeitiger ästhetischer Wertschätzung als eine besondere Kulturleistung erkannt wurde.
Heimisch werden in der Dissonanz: Vielleicht war ja genau dies der Moment, in dem – aus dem tiefen Schmerz einer ambivalenten Liebe heraus – die Haltung des modernen Konzerthörers erfunden wurde? Denn auch die Musik selbst – und insbesondere die religiöse Musik – ist in jener Zeit heimatlos geworden. Sie hat auf durchaus schmerzhafte Weise ihre angestammten Funktionen verloren – und musste sich neu einrichten im Konzept der Autonomie, der künstlerischen Freiheit und der „Kunst um der Kunst willen“.
Dies aber würde letztlich bedeuten, dass die Rezeptionsform „Konzert“ als Ganzes eine ihrer historischen Wurzeln in den Berliner Salons der jüdischen Haskala hatte. Es würde bedeuten, dass das aufklärerische Konzept von Musik als klingendem „Kunstwerk“ als eine jüdisch-christliche Gemeinschaftserfindung interpretiert werden kann. Und es würde vielleicht auch erklären, warum dieses Konzept später mehrfach ganz entscheidend von Autoren weiterentwickelt wurde, in deren Biographie sich starke reformjüdische Einflüsse finden.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Falls es sich hier tatsächlich um ein jüdisch-christliches „Gemeinschaftswerk“ handeln sollte, dann darf dieses Zusammenwirken gewiss nicht zu einer gelungenen interreligiösen Begegnung und gegenseitigen „transkulturellen“ Bereicherung verklärt werden. All die hier dargestellten „lichten“ Momente der Aufklärung hatten auch ihre Schattenseiten. Moses Mendelssohn selbst sah sich immer wieder antijüdischen Diffamierungen, christlichen Bekehrungsversuchen und orthodoxer Kritik ausgesetzt. Und als im ereignisreichen Jahr 1783 in Berlin mit Nathan der Weise ein Theaterstück uraufgeführt wurde, das Mendelssohns Utopie eines gleichberechtigten und friedlichen Nebeneinanders der drei großen Schriftreligionen literarisch fortspinnt, da überwog die Empörung zunächst noch bei weitem die Zustimmung. (...) Die „Gemeinschaftserfindung“, um die es hier geht, ist von Schmerz durchtränkt und aus der Not religiöser Unterdrückung und kultureller Selbstverleugnung geboren. Nirgendwo wird dieser Schmerz so deutlich spürbar, wie in der jüdischen Rezeption Johann Sebastian Bachs.

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