Wie kann man Vor- und Grundschulkindern auf spielerische Weise das Social Distancing beibringen?
In den Diskussionen um die Wiedereröffnung von Schule und Kindertagesstätten kommt ein sehr wichtiger Aspekt kaum vor: „Abstand halten“ kann und muss man lernen. Aber für sich alleine, in der heimischen Quarantäne lässt sich das social distancing nicht einüben. Kinder brauchen dafür andere Kinder und altersgemäße Zugangsformen. Wir haben deshalb eine Methodik entwickelt, mit der man Kindern auf eine positive und spielerische Weise beibringen kann, Abstand zu halten.
In den kommenden Tagen und Wochen werden wir auf dieser Seite Übungen und Spiele für das social-distancing-Training in der Schule vorstellen. Kolleg*innen aus der Tanz- und Theaterpädagogik, die entsprechende Ideen haben, wenden sich gerne an info(äd)trimum.de. Wir werden uns um eine Bündelung, zeitnahe Veröffentlichung und bei Freiberufler*innen auch um eine Honorierung entsprechender Konzepte bemühen.
Warum die Schule jetzt dringend Tanz- und Theaterpädagog(inn)en braucht – und jedes Kind ein unsichtbares Pferd
Die Schulen öffnen wieder, zumindest in kleinen Schritten, und sehen sich damit konfrontiert, in kürzester Zeit auf eine noch nie dagewesene Verantwortung reagieren zu müssen: Dafür Sorge zu tragen, dass Kinder und Jugendliche, die sich nach langer Isolation erstmals wiedersehen, die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten. Tische weit auseinanderstellen, Markierungen und Hinweisschilder anbringen, für ausreichend Handtücher sorgen – dies alles lässt sich einigermaßen unkompliziert bewerkstelligen. Aber was ist mit den Pausen und mit dem Moment des ersten Ankommens? Wie soll man verhindern, dass die Schüler sich hier zu nahe kommen und die kollektive Wiedersehensfreude, das Abreagieren von Wochen des zu-Hause-Eingesperrtseins zu einem unkontrollierbaren Infektionsherd wird?
Es gibt keine ausgereifte „Didaktik des Abstandhaltens“, keine bewährten und gründlich evaluierten best-practise-Modelle, an die sich anknüpfen ließe. Aber es gibt ermutigende Erfahrungen. Eine davon: Viele von uns spüren derzeit am eigenen Leib, wie gut man Abstandhalten lernen kann. Social distancing beginnt uns allmählich in Fleisch und Blut überzugehen. Auch ohne Zollstock „wissen“ wir intuitiv, wann uns im Supermarkt jemand zu nahe kommt. Manchmal ertappen wir uns dabei, dass es uns wundert, in einem Film von „damals“ zu sehen, wie Menschen dicht an dicht beisammensitzen.
Eine andere, berufsspezifische Erfahrung: Wer je ein größeres kulturpädagogisches Projekt mit Schulklassen angeleitet hat, weiß aus eigener Anschauung, dass sich soziale Interaktion, Achtsamkeit gegenüber Schwächeren und ein Gespür für die Position des eigenen Körpers im Raum hervorragend trainieren lassen – auch und gerade mit Kindern. Schule ist nicht nur dort „systemrelevant“, wo es darum geht, Prüflinge auf das Abitur oder die mittlere Reife vorzubereiten. Sie ist auch ein Ort des sozialen Lernens. Kinder entweder in heimischer Quarantäne festzuhalten oder ihre schulische Unterstützung auf das sitzende Büffeln von Prüfungsstoff zu reduzieren, verschenkt die große Chance, sie spielerisch und körperorientiert beim Verinnerlichen der Hygieneregeln und des Abstandhaltens zu unterstützen.
Als ich einige Kolleg*innen per Rundmail um entsprechende Ideen bat, hatte ich bereits eine Viertelstunde später die Antwort der Theater- und Reitpädagoginnen Babette und Katinka Ulmer im Postfach: „Pferde sind ungefähr 1,50m – 2m lang (vom Kopf bis zum Schweif), daran kann man den Abstand ziemlich anschaulich zeigen“. Ich selber wäre auf diese Idee nie gekommen, aber nachdem sie erst einmal in der Welt war, genügte ein weiteres zehnminütiges Telefonat mit der Regisseurin und Theaterpädagogin Kai Büchner, um diesen Ansatz abzurunden. Die Idee: Alle Kinder bis zum Alter von etwa sieben oder acht Jahren werden vorab per Brief oder Mail dringend darauf verpflichtet, zu ihrem ersten Schul- oder Kindergartentag nach der Kontaktsperre ein unsichtbares Pferd mitzubringen. Diese Pferde müssen unbedingt einen Namen haben, sie müssen regelmäßig mit unsichtbarem Futter gefüttert und an einem unsichtbaren Halfter liebevoll ins Klassenzimmer geführt werden. Wer keine Pferde mag, kann auch einen unsichtbaren Dino mitbringen oder ein Rennauto hinter sich herziehen. Das Entscheidende daran: Pferde, Dinos und Rennautos brauchen Platz. Viel Platz. Man muss Verantwortung für sie übernehmen und darauf achten, dass kein anderer ihnen zu nahe kommt.
Ich habe die arbeitsteilige Entstehung dieser Idee so detailliert beschrieben, weil sie sehr typisch ist. Menschen wie Kai Büchner, die Ulmers und mich, die sich Spiele wie diese ausdenken können, gibt es viele. Sowohl die großen Kulturinstitutionen als auch die freie Kulturszene sind hierzulande wichtige Bildungsträger. Museums-, Tanz-, Theater-, und Konzertpädagog*innen, aber auch viele freiberufliche Regisseurinnen oder Tänzer, die von ihrer Kunst alleine nicht leben können, sind häufig zu Gast in der Schule. Sie haben gelernt, mit Schulklassen umzugehen und verfügen über ein methodisches Handwerkszeug, das in der normalen Lehrerausbildung nicht zwingend vorkommt: Sie sind in der Lage, kurzfristig situationsbezogene und zielorientierte Übungen zu entwickeln, die Spaß machen und deren soziale und gruppendynamische Wirksamkeit sich hundert- und tausendfach in der Praxis bewährt hat. Bei den wenigsten dieser Übungen lässt sich eine eindeutige Urheberschaft ausmachen. Sie wandern von einer Kollegin zum nächsten und werden dabei ständig variiert und weiterentwickelt. Auf diese Weise ist in der kulturpädagogischen Praxis über viele Jahre hinweg ein gewaltiger, kollektiver Fundus an kombinierbaren und adaptierbaren Spielbausteinen entstanden. Jene aber, die über diese geballte Expertise verfügen, sitzen derzeit daheim und sind (derweil so manches Lehrerkollegium an fehlenden Konzepten und Seifenspendern verzweifelt) dazu verurteilt, sich mit Arbeitslosengeld oder Hilfsprogrammen für Soloselbständige über Wasser zu halten.
Dass Kinder anders lernen als Erwachsene – spielerischer, emotionaler, weniger kognitiv – ist eine Binsenweisheit. Ihnen die Gefahren der Virusübertragung zu erklären, wird bei jüngeren Kindern auf Dauer wenig fruchten. Sie mit Drill und Sanktionsdrohungen voneinander fernzuhalten, mag so lange funktionieren, wie die Lehrerin hinschaut und bereit ist, die Rolle der Raubtierbändigerin zu übernehmen. Worum es jetzt aber gehen muss, wenn sich die Schulen allmählich wieder füllen, ist das Einüben von gemeinsamer Verantwortung und einer nachhaltigen Identifikation und Verinnerlichung der neuen Regeln. Unabhängig von Alter und Status sollte jede auf jeden achtgeben und ihn oder sie ans Abstandhalten erinnern. Lehrer*innen sollten deshalb kein Hehl daraus machen, dass sie selber Lernende sind und dass die Situation auch für sie neu und ungewohnt ist.
Dies aber funktioniert besser, wenn es eine Instanz von außen gibt. Deshalb brauchen wir kurzfristig ein neues Schulfach „Abstand halten“, das sich an Schüler*innen und Lehrer*innen richtet und von externen Tanz-, Theater-, und Kulturpädagog*innen unterrichtet wird – am besten in kleinen Gruppen, die sich zu diesem Zweck in der ersten Schulwoche nach der Kontaktsperre gestaffelt, über mehrere Tage hinweg verteilt, in der Turnhalle oder Schulaula einfinden. Ihre unsichtbaren Pferde müssen die teilnehmenden Kinder und ihre Lehrer*innen selbstverständlich mitbringen. Die haben nämlich eine magische Eigenschaft: Sie können Leben retten.
(Bernhard König, 21.4.2020)