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Fugato 2016. Wie klingt Zusammenleben?

Unser neues Kooperationsprojekt “Fugato” gibt uns die Gelegenheit, die Arbeitsweise von Trimum unmittelbar auf ein wichtiges Thema der Gegenwart anzuwenden: Auf die Begegnung mit Geflüchteten, die erst vor kurzer Zeit in unser Land gekommen sind.

Fugato ist, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, in den Städten Esslingen, Reutlingen und Tübingen angesiedelt. Wichtigster Kooperationspartner ist – neben vielen anderen Akteuren und Unterstützern – die Württembergische Philharmonie Reutlingen. Ähnlich wie in den Anfangsjahren von Trimum betrachten wir auch diese neue Projekt als eine Form von künstlerischer und soziokultureller “Grundlagenforschung”, lassen uns auf einen ergebnisoffenen und suchenden Prozess ein und erproben verschiedene Modelle der Begegnung und Interaktion.

Ausgangsfragen

Was können wir tun? Diese Frage stellten sich im Herbst 2015 Musikerinnen und Musiker der Württembergischen Philharmonie Reutlingen. Wie kann man mit Mitteln der Musik jenen Menschen begegnen, die bei uns Zuflucht vor Terror und Krieg suchen? Wie kann man ihnen eine Stimme geben und sie dabei unterstützen, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen? Wie können wir uns als Orchester in dieser Situation positionieren, worin könnte unsere Aufabe bestehen?

Was können wir tun? Diese Frage stellten sich zur gleichen Zeit auch die Förderer und Akteure von Trimum. Kann der Ansatz von Trimum auch für die Begegnung mit Flüchtenden fruchtbar gemacht werden: Über die Grenzen der Kulturen und Religionen hinweg miteinader zu musizieren, ohne dabei die kulturellen Unterschiede und Differenzen aus dem Blick zu verlieren?
Gemeinsam sind die Württembergischen Philharmonie und die Vordenker von Trimum diesem Impuls nachgegangen: Einen Beitrag zum aktuellen Geschehen leisten zu wollen – und zugleich die Tatsache ernst zu nehmen, dass wir noch keinen fertigen Plan, keine fertige Antwort darauf haben, wie dieser Beitrag aussehen kann.

Fragende Grundhaltung

Welche Rolle kann Musik spielen, wenn Menschen gerade erst einer existentiellen Notlage entkommen sind, ihre Heimat und oft auch ihre Familie verloren haben und nun in fremder Umgebung, unter den erschwerten Bedingungen eines unsicheren Rechtsstatus’, eine neue Existenz aufbauen möchten? Was bewegt und beschäftigt sie, was sind die Themen, denen mit musikalischen Mitteln eine Stimme gegeben werden könnte? Hilft es ihnen, dem was sie erlebt und erlitten haben, eine künstlerische Form und einen musikalischen Ausdruck zu geben? Kann die Musik ihrer Herkunftskultur zur Stärkung ihrer kulturellen Identität beitragen? Oder möchten sie sich neuen Themen, neuen Melodien und Klängen zuwenden und das Erlebte hinter sich lassen? Als Initiatoren des Projektes wollen wir diese Fragen nicht alleine beantworten. Statt uns vorschnell auf den einen oder anderen Weg festzulegen, machen wir uns zusammen mit unseren Mitwirkenden auf die Suche: Mit rund 70-80 jungen Männern und 15-20 Frauen, die zum größten Teil aus Afghanistan, teilweise auch aus anderen Ländern stammen und erst seit wenigen Monaten eine Bleibe in Reutlingen, Tübingen oder Esslingen gefunden haben. Statt von einer vorab definierten Zielvorgabe auszugehen, die einseitig unser eigenes Kulturverständnis fortschreibt, entwickeln wir unsere künstlerischen Ziele in einem behutsamen Prozess des Kennenlernens und der Annäherung, begleitet durch interkulturelle Vermittler und intensiv unterstützt durch zahlreiche Akteure der lokalen Flüchtlingshilfe.

Fremdheitsgefühle und Musik

Der Name unseres Vorhabens, „Fugato“, ist ein Fachbegriff aus der klassisch-europäischen Musik. Ein „Fugato“ ist ein Musikstück, in dem verschiedene Stimmen sich aufeinander beziehen und einander imitieren, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Noch keine ausgewachsene „Fuge“ nach allen Regeln der Kunst (so nennt man die sehr viel vollkommenere große Schwester des Fugatos), aber ein erster Schritt dorthin. Eine Andeutung jenes Miteinanders, das sich ergeben würde, wenn alles sich fügen würde.
In „Fugato“ steckt aber auch das lateinische Wort für „Flucht“. Man kann ein Fugato auf zweierlei Weise hören: Die Stimmen fügen sich nicht nur, sie fliehen auch voreinander. Vielleicht ein Hinweis auf die zentrale Beziehungsweisheit, dass Annäherung Zeit braucht – und dass jedes gelingende Miteinander sowohl Nähe und Übereinstimmung als auch Distanz und Autonomie erfordert?
Zur Zeit wird das Thema „Flucht“ überschattet durch wechselseitige Fremdheitsgefühle, durch Ängste, Irritationen, Polarisierungen und Gewalt. Was können wir tun? Im Alltag sind Fremdheit, Verschiedenheit und Dissonanzen manchmal schwer erträglich. In der Musik können sie eine Bereicherung sein. Sie können bewusst gestaltet und auf einer symbolischen Ebene spielerisch vergrößert, verkleinert oder gar überwunden werden. Miteinander Musik zu machen macht Spaß, verbindet und schafft angstfreie Räume. In einem solchen Raum Fremdheit wahrzunehmen, zu begrüßen und ihre Schönheit zu erkennen (ehe man mit allen Mitteln versucht, sie zu überwinden) – das wäre in der gegenwärtigen Situation schon viel.

Orchester als Zukunftslabor

Im Mittelpunkt der Reutlinger und Tübinger Fugato-Aktivitäten steht die Begegnung zwischen Orchestermusikern und jungen, unbegleiteten Flüchtlingen, die überwiegend aus Afghanistan stammen.

Die Württembergische Philharmonie Reutlingen (WPR) betrachtet diese Begegnung als Chance für ein wechselseitiges, ergebnisoffenes Lernen. Musik ist nicht statisch, sie hat sich Lauf ihrer Geschichte immer wieder aus der gegenseitigen Befruchtung unterschiedlicher Traditionen weiterentwickelt. Zur Zeit können wir miterleben, wie die Bevölkerungsstruktur unseres Landes sich verändert und dadurch auch seine Musikkultur durch neue Elemente bereichert wird. Die WPR möchte diesen Veränderungsprozess aktiv mitgestalten.

Aus diesem Grund beschränkt sich die praktische Arbeit nicht auf herkömmliche Angebote zur Begegnung und Auseinandersetzung mit europäischer Orchestermusik. Es war uns wichtig, eine Situation “auf Augenhöhe” herzustellen, in die beide Seiten etwas einbringen können. Als Gegengewicht zur europäischen Orchesterkultur haben wir deshalb afghanische und iranische Experten hizugezogen, die es den Akteuren ermöglichen, sich intensiv mit der traditionellen Musik ihres Herkunftslandes auseinanderzusetzen oder in einer Textwerkstatt eigene Gedichte, Prosa- und Songtexte in persischer Sprache zu verfassen.

So entsteht eine identitätsstiftende Basis, von der aus dann Ausflüge in gemeinsame, kulturübergreifende Improvisationen, Klangexperimente und Kompositionen unternommen werden – oder auch erste, spielerische Annäherungen an die Instrumente des Orchesters gewagt werden können.

Veränderungen mitgestalten

Während die Reutlinger Fugato-Aktivitäten stark durch die Kooperation mit einem klassischen Sinfonieorchester geprägt sind, war unsere Arbeit in Esslingen zunächst völlig ergebnissoffen angelegt. Unser Ziel: Mit künstlerischen Mitteln auf jene Wünsche und Aufgabenstellungen zu reagieren, die von den Geflüchteten selbst, von ehrenamtlichen oder professionellen Helfern an uns herangetragen werden.

Angst vor der Abschiebung

Ein erstes Beispiel für diesen „bedarfsorientierten“ Ansatz ist das Video „Ein Lied für Dublin“. Es entstand im Juli 2016 binnen zweier Tage als spontane künstlerische Reaktion auf den aktuellen Fall einer Abschiebung auf Grundlage des „Dubliner Übereinkommen“ zur Drittstaatenregelung bei Asylanträgen.

Für einige Akteure der Theatergruppe Stage Divers(e) & United Unicorns ist die mögliche Abschiebung in einen solchen „sicheren Drittstaat“ ein ständig präsentes Zukunftsszenario: Nicht zu wissen, ob das derzeitige Umfeld auch in einigen Tagen noch Schutz und Beheimatung bieten wird. Womöglich schon bald wieder das Land und die Stadt verlassen zu müssen, in der sie ihre Theaterstücke entwickeln, Workshops geben und das Kulturleben bereichern. Das Video entstand kurz nach der Abschiebung eines besonders engagierten Mitspielers. Was können wir tun? Manchmal vielleicht nur dies: Aktueller Ohnmacht und Bedrückung eine Stimme geben.

Brückenschlag zwischen den Kulturen

Eine weitere Zielsetzung wurde vom Esslinger Netzwerk buntES an uns herangetragen: Der Wunsch, mit musikalischen und theatralischen Mitteln einen Brückenschlag zwischen „alteingesessenen“ Migranten und geflüchteten Neuankömmlingen zu versuchen. Aus dieser Zielsetzung entstand gemeinsam mit den United Unicorns die Idee für eine Musiktheaterszene mit dem Titel “Typisch Esslingen”:
Irgendwo, in einem fernen Land südlich des Äquators: Eine Gruppe von Ethnologen beschließt, auf Forschungsreise zu gehen – aber wohin bloß? Da stößt einer der Forscher auf einen Ort mit dem faszinierend fremdartigen Namen „Ess-lin-gen“. Die Expedition beginnt.

Aktuellen Befindlichkeiten eine Stimme geben

Das Team, der Chor und die Ensembles von Trimum haben in den zurückliegenden Jahren unter Beweis gestellt, dass Juden, Christen und Muslimen sich auch in spannungsvollen und unfriedlichen Zeiten in der Musik begegnen können. Voraussetzung dafür ist eine wechselseitige Offenheit für die Themen und Sichtweisen der anderen. So fragen wir auch bei Fugato: Welchen aktuellen Befindlichkeiten kann mit musikalischen Mitteln eine Stimme gegeben werden? Wie kann Musik dem Prozess des Ankommens, Sich-Zurechtfindens und Kennenlernens, der Begegnung und Integration dienen?

Akteure

Fugato ist ein gemeinsames, städteübergreifendes Projekt der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und des Trimum e.V.

Team Württembergische Philharmonie Reutlingen
Angelika Bender
Wiltrud Böckheler
Matthias Buck
Günther Fischer
Friedborg Künstner
Nastasja Nürnberger-Schmeel
Justus Ruhrberg
Jennifer Sabini
Claudia Winkler
Virginie Wong

Dokumentation
Lisa Dollenmaier
Justina Raczek
Alex K. Müller (media&more)

Projektassistenz
Astrid Edel
Lena Gerber
Kerstin Panitz
Djalal Sepas
Elena Smith

Gastreferent(inn)en
Stefanie Biesolt, Regie und Schauspiel
Judith Bomheuer-Kuschel, interkulturelle Musikpädagogik
Ermia, Gesang
Bakary Jammeh, Jonglage
Kebba Keita, Jonglage
Katinka Ulmer, Theaterpädagogik
Matias Urroz, Akrobatik und Bühnentraining

Gastmusiker
Salam Ghafuri, Tanbur
Ebrahim Cheraghi Hamoole, Gesang
Kebba Mbye, Gesang und Trommel
Mahdiyeh Meidani, Setar
Abdou Nyoko, Gesang und Trommel
Merve Salgar, Tanbur
Farzaneh Soorani, Santur

Textwerkstatt
Edris Joya

Ensembleleitung
Monir Naachiz (afghanischer Chor)
Alon Wallach (Fugato-Ensemble)

Projektleitung
Gerlinde Dippon, Projektleitung und Organisation
Bernhard König, künstlerische Leitung und Konzept

Kooperationspartner und Unterstützer

Kooperationspartner Esslingen
BuntES Esslingen
Chor des türkischen Kulturvereins Esslingen
Folkloretanzgruppe des Spanischen Elternvereins Esslingen
Kantuta – Folklore aus Bolivien
Kulturzentrum Dieselstraße
Stage Divers(e) & United Unicorns
Tamilisches Tanzduo aus Sri Lanka
Verein Freunde jüdischer Kultur Esslingen

Kooperationspartner Reutlingen
BruderhausDiakonie Reutlingen
Kolpinghaus Reutlingen
Landratsamt Reutlingen (Kreisschul- und Kulturamt)

Kooperationspartner Tübingen
Deutsches Rotes Kreuz – Kreisverband Tübingen
Landratsamt Tübingen
Team Training Tübingen
Universität Tübingen, Zentrum für Medienkompetenz (ZFM)
Volkshochschule Tübingen

Weitere Kooperationspartner und Unterstützer
Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) – Landesjugendamt
Verein Hilfe zur Selbsthilfe e.V.
Pro juventa e.V.
Musikhaus Thomann

Förderer und Sponsoren

Logos Fugato

Bundesministerium des Innern (Förderprojekt „Weißt du, wer ich bin?“)
Caritas Schwarzwald Gäu „Aktion Sahnehäubchen“
Kulturamt der Stadt Esslingen am Neckar
Referat für Integration und Migration der Stadt Esslingen am Neckar
Robert-Beitlich-Stiftung
Stiftung Deutsche Jugendmarke
Stuttgarter Lehrhaus, Stiftung für Interreligiösen Dialog
Zukunftsstiftung Heinz Weiler