Trimum

2014 - Musik des Trialogs

Musik in Zeiten des Krieges

Durch die aktuellen Konflikte in Nahost hat der Aspekt einer freundschaftlichen und konstruktiven Zusammenarbeit von Juden und Muslimen – auch über unser konkretes Projekt hinaus – eine traurige und bittere Aktualität erhalten.

Das nachfolgende Gespräch wurde im Februar 2014 am Rande einer interreligiösen Konzeptwerkstatt geführt. Es sollte ursprünglich erst im Rahmen eines geplanten TRIMUM-Textbandes veröffentlicht werden. Wir haben uns aus aktuellem Anlass entschieden, nicht bis zum Erscheinen des geplanten Buches zu warten, sondern dieses Gespräch schon vorab zu veröffentlichen.

Hintergrundgespräch: TRIMUM und der jüdisch-islamische Dialog

BERNHARD KÖNIG:
Wir arbeiten jetzt seit rund einem Jahr bei Trimum zusammen – manche von euch kürzer, manche etwas länger – und mein Eindruck ist: Ihr alle seid sehr viel mehr als bloße „Gastreferenten“. Ihr habt euch dieses Projekt stark zu eigen gemacht und bringt euch „mit Haut und Haaren“ ein – als Musiker und ständige Berater, Ideengeber und Vermittler. Woher stammt dieses große Engagement?

ALON WALLACH:
Für mich als jüdischer Mensch im Ausland ist die Frage sehr wichtig: Wie kann ich in Kontakt kommen zu der Gesellschaft, in der ich lebe, aber gleichzeitig meine Identität bewahren? Es gibt dazu zwei extreme Modelle: Sich kulturell von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen – oder sich völlig zu integrieren und seine Herkunft zu vergessen. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit der Frage nach einem Mittelweg zwischen diesen Extremen – und Trimum biete mir eine wunderbare Möglichkeit, genau das zu tun und mich als Jude, als gebürtiger Israeli in die hiesige Kultur einzubringen.

SAAD THAMIR:
Ich mache diese Arbeit schon lange und habe mich in meinen Kompositionen sehr viel mit christlichen, islamischen und jüdischen Motiven beschäftigt – in einem meiner Musikstücke begegnen sich beispielsweise hebräische und arabische Sprache. Seit mehr als zwanzig Jahren singe ich für den Frieden und je mehr ich singe, desto lauter wird der Lärm der Waffen. Kurz bevor ich aufgeben wollte, kamst du, Bernhard, und hast mich zu Trimum eingeladen. Und plötzlich bin ich nicht mehr allein sondern gehöre zu einer Gruppe von Musikern, die alle das Gleiche wollen und zusammen produktiv sind. Manchmal sind wir unterschiedlicher Meinung, aber die Richtung ist die gleiche.

TUBA IŞIK:
Aus meiner bisherigen Arbeit als Theologin kenne ich viele interreligiöse Gespräche, „Runde Tische“ oder theologische Symposien, die sowohl dialogisch als auch trialogisch veranstaltet werden. Aber gesungen wird dort nie. Zwar haben wir an unserem Paderborner Zentrum für Komparative Theologie bereits seit zehn Jahren eine eigene Tradition entwickelt, dass wir christlich-muslimisch miteinander singen. Aber eine Tradition des jüdisch-muslimischen Singens gibt es in Deutschland überhaupt nicht – ich selber habe das jedenfalls hierzulande bisher noch nie erlebt.

BERNHARD KÖNIG:
Gibt es diese Tradition denn anderswo?

TUBA IŞIK:
Natürlich nehme ich als komparative Theologin an den Gottesdiensten der Anderen teil. Wenn ich in die Kirche gehe und eine Messe verfolge, dann schaue ich immer auch, was ich als Muslimin inhaltlich teilen und wo ich mitsingen kann. Auch in Jerusalem, als wir eine Synagoge besucht haben und am Sabbat teilnehmen durften, haben wir kräftig mitgesungen. Die Übersetzungen standen im Liederbuch und das waren größtenteils Inhalte, die auch ich unterschreiben konnte. Deswegen habe ich mitgesungen – und dabei auch wieder diese Erfahrung gemacht: In diesem Moment bete ich genau zu diesem einen, selben Gott. Das ist doch ein sehr schönes, verbindendes Element, vor allem in der heutigen Gesellschaft, wo wir immer wieder diese identitären Abgrenzungsmechanismen haben und den Anderen eben nicht als Freund sondern eher als Feind sehen zu wollen.

ASSAF LEVITIN:
Für mich sind diese musikalischen Begegnungen auch eine Möglichkeit, näher an die Frage heranzukommen, wer ich selber bin. Ich als Jude. Wir führen hier einen Trialog – oder vielleicht sollte man eher sagen: mehrere Dialoge. Aber gleichzeitig führt jeder von uns auch ein Gespräch mit sich selbst. Ich habe als Sänger eine Menge christlicher Oratorien gesungen, aber hier bin ich als Kantor und Ashkenazi-Jude eigeladen und man erwartet von mir, dass ich etwas „typisch Jüdische“ einbringe. Aber je mehr ich in den Quellen forsche, desto mehr Verbindungen zwischen den Kulturen finde ich. Es gibt keine klaren Grenzen, keine „typisch jüdische“ Musik.

ALON WALLACH:
Diesen Punkt finde ich besonders wichtig. Dieser Wunsch nach klaren Grenzen hat meiner Meinung nach etwas mit unserem Bedürfnis nach Ordnung zu tun. Die Welt fühlt sich viel sicherer an, wenn alles seinen bestimmten Platz hat. Für mich ist eine der Hauptaufgaben von Trimum, diese Grauzonen zu entdecken, sich musiklisch damit zu beschäftigen, um sich auch dort wohlfühlen zu können.

BERNHARD KÖNIG:
Ahmet, du bist bereits seit den ersten Planungen sehr aktiv bei unserem Projekt dabei.

AHMET GÜL:
Als Trimum vor drei Jahren begann, kam mir das sehr gelegen. Ich selbst hatte mir kurz zuvor überlegt, einen Chor mit Muslimen, Christen und Juden zu gründen und hatte auch bereits erste Gespräche deswegen geführt. Keine vier Wochen später riefst du bei mir an und erzähltest von deinen Plänen für einen interreligiösen Projektchor.

BERNHARD KÖNIG:
Wir hatten also zufällig zur gleichen Zeit die gleiche Idee?

AHMET GÜL:
Ja, aber Trimum geht noch einen Schritt weiter. Ich hatte damals nur daran gedacht, die muslimische, christliche und jüdische Musik in ihrer jeweils ursprünglichen Form zu praktizieren. Das wird auch bei Trimum getan – auch hier wird gesagt: Jede Kultur und jede Religion soll so bleiben, wie sie ist. Aber zusätzlich wird auch etwas ganz Neues geschaffen, das die Religionen miteinander verbindet. Und wenn jemand sagt: Diesen Satz, diese Aussage kann ich so nicht singen, weil sie nicht mit meiner Religion vereinbar ist, dann wird nach künstlerischen Alternativen gesucht.

BERNHARD KÖNIG:
Anfang fand diese Suche ja in einzelnen, monothematischen Workshops statt: Die Internationale Bachakademie als christlich geprägte Institution hat euch einzeln als Referentinnen und Referenten eingeladen, so dass wir zunächst im Grunde nur einen christlich-jüdischen und einen christlich-islamischen Dialog hatten. Seit wir uns dann im Herbst 2013 erstmals als Gesamt-Team getroffen haben, beginnt sich unter euch ein ganz eigener jüdisch-islamischer Austausch zu entwickeln. Mein Eindruck ist, dass dieser Dialog eine ganz besondere Intensität und Dynamik hat. Welche Rolle kann die Musik, kann ein Pojekt wie Trimum aus eurer Sicht für den jüdisch-islamischen Dialog spielen?

ALON WALLACH:
Für mich hat das viel zu tun mit der Frage: Wozu ist Musik überhaupt da? Musik an sich ist vielleicht gar nicht so wichtig, wie sie uns Musikern immer erscheint. Aber sie hat eine Art geistige, heilende Wirkung. Viele Menschen, die sich mit Musik beschäftigen, tun dies nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen dieser heilsamen Wirkung. Weil sie zum Beispiel irgendeinen Konflikt haben. Ich denke, dass der jüdisch-muslimische Dialog etwas ist, das derzeit ziemlich krank ist. Als Juden und Muslime sind wir – vor allem in meinem Heimatland, in Israel – noch nicht darauf vorbereitet, uns mit den echten Themen auseinanderzusetzen. Weil wir alle emotional viel zu stark verstrickt sind und viel zu viele Konflikte haben. Wir sind noch nicht auf der Ebene, wo wir ernsthaft darüber diskutieren können, was wir tun können oder wie wir die politische Situation lösen können.

AHMET GÜL:
Ich weiß nicht, ob wir überhaupt irgendwas lösen müssen oder können. Vieles lässt sich nicht lösen, vor allem was religiöse oder politische Meinungsverschiedenheiten anbelangt. Aber man kann auch durch die Musik selbst eine Botschaft versenden. Wenn wir aufgrund der Musik zusammenkommen und miteinander musizieren, dann vermittelt sich dieses Gemeinsame auch unseren Zuhörern.

ALON WALLACH:
Ich glaube, wenn Musik in diesem Konflikt überhaupt irgendeine Daseinsberechtigung hat, dann vielleicht diese: Dabei mitzuhelfen, diese emotionalen Konflikte, die sich über die letzten Jahrzehnte aufgebaut haben, ein klein wenig zu lindern. Wenn sich dann nach – hoffentlich – vielen Gesprächen und vielen solcher Projekte das emotionale Chaos etwas beruhigt hat, dann wird man vielleicht irgendwann auch in der Lage sein, über die wirklichen Konfliktthemen zu sprechen.

TUBA IŞIK:
Dass denke ich auch: Dass ein gemeinsames Singen noch einmal eine ganz andere Ebene sein kann, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Um sich überhaupt zu begegnen, sich näher zu kommen und auf diese Weise eine freundschaftliche Ebene für den weiteren Dialog zu schaffen. Da kann Musik schon so etwas wie ein universales Bindemittel sein.

BERNHARD KÖNIG:
Kann sie das wirklich? Mein Eindruck ist: Religiöse Musik trennt eher, als dass sie verbindet. Warum sollte ausgerechnet sie dann ein geeignetes Medium für einen außermusikalischen Dialog sein, der ohnehin extrem schwierig ist?

SAAD THAMIR:
Ich habe mich das schon oft gefragt: Warum mache ich das? Warum begegnen wir uns? Warum arbeite ich jahrelang an einer Komposition und am Ende habe ich nichts verdient, sondern dreitausend Euro hineingesteckt? Irgendwann habe ich erkannt: Ich tue das, weil wir im Krieg sind. Wir sehnen uns nach Frieden, weil wir im Krieg sind. In einer blutigen Tragödie aus Angst, Hass, Agression und Wahnsinn. Und deswegen reagieren wir mit unserer Musik auf das, was da passiert. Ich habe vieles von diesem Krieg gesehen. Juden und Muslime bringen sich gegenseitig um, ohne sich zu kennen und ohne die diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen.

ASSAF LEVITIN:
Wen du kennst, den bringst du nicht um.

SAAD THAMIR:
Heute betrachte ich das nicht mehr als Kampf zwischen Juden und Muslimen. Assaf und ich, Alon und ich, wir sind keine Feinde. Es geht um Macht und Geld – und darum, andere Meinungen auszulöschen. Du denkst anders als ich, du glaubst etwas anderes als ich? Dann lösche ich dich aus. Und wenn ich es nicht schaffe, dann mache ich mich noch stärker, kaufe ich noch mehr Waffen.
Ahmet, du hast vorhin gesagt, wir können keine Lösungen finden. Natürlich können wir das nicht, aber wir können einen Ruf schaffen.

AHMET GÜL:
Durch die Musik?

SAAD THAMIR:
Als Menschen. Ich bin zufällig Musiker, deshalb reagiere ich als Musiker. Ich könnte auch Maler sein oder Schriftsteller oder Arzt, dann würde ich auf andere Art reagieren. Aber diesen Ruf auszusenden, das ist seit Jahren mein Lebensziel. Wenn ich das nicht wenigstens versuchen würde, dann würde ich ersticken. Die Geschichte wird nicht durch Kriege vorangebracht, sondern durch Künstler, Denker und Wissenschaftler. Und das ist unsere Aufgabe. Ich will nicht die Welt ändern, aber einen kleinen Samen einpflanzen.

BERNHARD KÖNIG:
Und welche Rolle spielen die Religionen?

SAAD THAMIR:
Für mich spielt die Religion an dieser Stelle überhaupt keine Rolle mehr. Ich habe einen Film im Kino gesehen, über Israel. Und da wird ein israelisches Kind interviewt und gefragt: „Wer sind denn diese Palästinenser?“ Das Kind sagt: „Die sind alle Teufel und müssen weg“. Wenn ich das höre, dann spielt es keine Rolle mehr, an welche Religion ich glaube oder welcher Religion dieses Kind angehört. Ich muss dieses Kind retten. Es darf nicht so erzogen werden, dass es ein Ungeheuer und ein Mörder wird. Und das gilt für alle Seiten. Als wir Kinder waren, haben auch wir gedacht, dass die Juden Hörner haben wie ein Teufel. Wir kannten keinen einzigen Juden – aber das war das Bild, das uns die Älteren vermittelt haben.

TUBA IŞIK:
Als deutsche Muslimin habe ich nie solche Feindbilder vermittelt bekommen. Im Gegenteil, ich erkenne eine große Nähe zwischen dem Islam und dem orthodoxen Judentum. Aber das hängt natürlich auch mit meinen türkischen Wurzeln zusammen. Für jemanden, der aus der Türkei kommt, ist dieser Konflikt nicht so emotional belastet, wie wenn man Araber ist. Die Türkei und auch das Osmanische Reich hatten nie ein Problem mit Juden.

AHMET GÜL:
Das stimmt nicht ganz. Das normale türkische Volk – ich spreche jetzt vor allem von den Menschen mit wenig Bildung – ist ebenfalls nicht gut auf die Juden und auf Israel zu sprechen. Das ist sicher nicht so radikal wie im Irak oder in den arabischen Ländern um Israel herum. Aber man hört auch in der Türkei viele judenfeindliche Aussagen.

ASSAF LEVITIN:
Es wird immer schwerer, überhaupt irgendeinen Dialog zu führen. Es gibt zum Beispiel viele Fernsehsender, die schreckliche anti-israelische Propaganda zeigen. Manchmal schaue ich mir nachts im Hotel solche Filme an. Man zeigt uns darin die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser aus Israel, und man erhält den Eindruck: Der Holocaust war ein harmloser Spaziergang dagegen. Völlig wirklichkeitsfremd, ohne jeden historischen Kontext. Ich sage das als jemand, der sich sehr stark politisch für einen palästinensischen Staat und gegen die derzeitige israelische Politik engagiert. Ich glaube an die Nakba und dass sie sehr schlimm war. Aber der Holocaust war schlimmer. Man kann das überhaupt nicht vergleichen. Auf diese Weise kommen wir nicht weiter – wenn das heute, im Jahr 2014, noch immer so gezeigt wird, dann haben wir es wirklich mit einer gehirngewaschenen Generation zu tun. Dann muss ich tatsächlich erst beweisen, dass mir keine Hörner aus dem Kopf wachsen.

BERNHARD KÖNIG:
Aber dann spielen die Religionen doch sehr wohl eine Rolle – nämlich eine negative?

AHMET GÜL:
Gewiss. Es sterben sehr, sehr viele Menschen im Namen Gottes…

ASSAF LEVITIN:
... in blutigen Konflikten, die selbst die die hässlichste Gotteslästerung darstellen.

BERNHARD KÖNIG:
Und ist nicht dieses Gewaltsame bereits in unseren Religionen angelegt? Ich bin Protestant. Martin Luther, der Begründer meiner Konfession, war ein schlimmer antijüdischer und anti-islamischer Hetzer. Und er hat das alles theologisch begründet. Es wird einem übel, wenn man diese Hasspredigten liest.

ASSAF LEVITIN:
Ich betreue eine kleine Gemeinde, als Kantor und als eine Art „Aushilfs-Rabbiner“. Demnächst feiern wir Purim. Ich liebe dieses Fest, es ist eine Art Fasching, die Lieder sind toll und das Essen ist toll. Aber was wir dort feiern, ist die Auslöschung eines ganzen Volkes vor xxxx Jahren. Wir feiern, dass der Bösewicht Haman, der die Juden vernichten wollte, mit seinen zehn Söhnen an einem Baum aufgehängt wurde und sein ganzes Volk erbarmungslos abgeschlachtet wurde. Darin kann ich keinen erfreulichen Anlass zum Feiern sehen. Ich bin liberaler Jude, ich bin ein liberaler Mensch und es ist für mich inakzeptabel, dass meine Religion so etwas vertritt. Aber auch wenn ich diese Bibelstellen und den Anlass dieses Festes nicht mag: Sie gehören zu meiner Religion, die ich so großartig finde und grauenvoll zugleich. Und meine Aufgabe ist nicht, es zu verschweigen, sondern mich damit auseinanderzusetzen. Ich hab mich deshalb entschieden, dass ich diese Geschichte in meiner Gemeinde vorlesen werde, um danach eine Diskussion darüber zu führen.
Jede institutionalisierte Religion hat diese Schattenseiten, und jede Religion hat ihre Geistlichen, die Böses tun. Wir nennen das im Judentum Nawal biReschut haTorah, ein „lizenzierter Bösewicht“ mit Erlaubnis der Torah. Und ich würde mir wünschen, dass wir in unseren Begegnungen auch darüber mutig sprechen können: Über das, was wir an unseren eigenen Religionen inakzeptabel finden.

SAAD THAMIR:
Ich habe unendlich viele solcher Kritikpunkte gegen meine Religion. Aber für mich sind diese Gesetze und Geschichten menschliche Erfindungen für eine bestimmte Zeit, um politisch und gesellschaftlich Ordnung zu schaffen. Deshalb: Für jeden Fehler den man findet, findet man auch eine historische Erklärung. Es geht nicht darum, wie wir heute darüber denken, sondern wie vor 1500 Jahren, zur Zeit Mohammeds darüber gedacht wurde.

TUBA IŞIK:
All unsere Heiligen Schriften haben diese gewaltverherrlichenden Verse. Man kann das gut umschiffen, indem man sagt: Okay, ich lese diesen Text jetzt einfach kontextuell, in seinem historischen Umfeld. Oder ich verstehe ihn als Metapher oder Gleichnis. Problematisch wird es in dem Moment, wo ein Selbstmordattentäter oder Möchtegern-Dschihadist sagt: Diese Stelle hier, dieser Aufruf zur Gewalt hat für mich auch heute noch eine Bedeutung. In diesem Moment wird der Koran missbraucht, um eine Gewalttat zu plausibilisieren: „Hier steht es doch. Tötet sie überall wo ihr sie findet.“

BERNHARD KÖNIG:
Aber wenn es doch die Religionen selbst sind, die all diese Konflikte überhaupt erst in die Welt bringen – welchen Sinn hat dann ein interreligiöses Musikprojekt? Sollten wir Musiker dann die Religion nicht lieber ganz beiseite lassen?

TUBA IŞIK:
Nein, weil wir ja gerade auf diese Weise gemeinsam zeigen können, dass die Religionen nicht nur dieses Konfliktpotential sonden auch ein friedensstiftendes Potential haben können.

SAAD THAMIR:
Der Sinn von Trimum ist, dass wir uns hier, als Menschen dieser verfeindeten Religionen, miteinander unterhalten. Die gesamte Maschinerie können wir nicht stoppen. Aber Assaf und ich, er als Israeli und ich als Iraker, können den Leuten zeigen, dass wir beide es geschafft haben. Auf musikalischer Ebene. Das meine ich, wenn ich sage, dass wir als Musiker einen Ruf schaffen können.

TUBA IŞIK:
Vielleicht auch – gerade weil ihr Musiker seid – im Sinne einer Wiederbelebung all der verloren gegangenen Traditionen, die wir schon einmal hatten. Denn genau dort wird dieses Friedenspotential ja erkennbar. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts haben in Palästina alle miteinander in Frieden gelebt. Und wir kennen das spanische Granada, wo es ebenfalls keine Konflikte gab.

ALON WALLACH:
Wenn man sich die Sache vor diesem geschichtlichen Hintergrund anschaut, dann muss man denken, dass wir alle verrückt sind. Denn eigentlich hat ja der jüdisch-islamische Dialog eine viel längere und viel friedlichere Tradition als der jüdisch-christliche Dialog…

SAAD THAMIR:
… oder der islamisch-christlich.

ASSAF LEVITIN:
Das ist es, was ich vorhin meinte als ich sagte: Es gibt gar nicht diese klar abgegrenzte „typisch jüdische“ Musik. Unsere Kulturen sind sich so unglaublich nah. Es gibt im Yemen synagogale Gesänge, die zu hundert Prozent arabische Musik sind. Es gibt Melodien, die aus dem Irak kommen und heute noch in der Synagoge gesungen werden.

SAAD THAMIR:
Und es gab in der traditionellen irakischen Musik bestimmte Maqamat, die nur auf Hebräisch gesungen wurden. Auch in muslimischen Liedern.

ASSAF LEVITIN:
Es gibt noch weitere wichtige Verbindungen. Das Aramäische zum Beispiel. So viel ich weiß, ist diese Sprache und auch die aramäische Musik sehr nah beim Arabische. Wir Juden haben sie heute noch in unseren Gebetbüchern. Jesus hat wahrscheinlich Aramäisch gesprochen und die irakischen Kurden sprechen es heute noch. Und Maimonides, der vielleicht größte jüdische Denker aller Zeiten, hat auf Arabisch geschrieben.

ALON WALLACH:
Maimonides ist für mich ein Paradebeispiel. In Israel kennt man ihn nur unter seinem hebräischen Namen „Rambam“, einer Abkürzung von Rabbi Moshe ben Maimon. Als „Maimonides“ ist er völlig fremd – und noch weniger bekannt ist sein arabischer Name. Warum wissen wir in Israel nicht, dass Juden über Jahrhunderte Arabisch gesprochen, geschrieben und gelesen haben? Warum wissen wir nicht, dass einige unserer wichtigsten Denker von Muslimen beeinflusst und inspiriert wurden? Muslime, Christen und Juden müssten mit einem Bewusstsein dafür aufwachsen, dass unsere Geschichten ineinander verwoben und voneinander abhängig sind. Ich bin überzeugt davon, dass dann eine deutlich besser informierte, tolerantere und somit auch glücklichere Generation heranwachsen könnte.

ASSAF LEVITIN:
Wir müssen muss also bei Trimum gar nicht unbedingt so viel Neues erfinden; die Querverbindungen finden sich bereits in der Tradition. Ich würde mir wünschen, dass ihr Christen ebenfalls danach sucht und auch eure Traditionen erforscht. Es kommt mir so vor, als ob ihr diese Arbeit bei Trimum komplett uns Juden und Muslimen überlasst.

BERNHARD KÖNIG:
Ich muss zugeben: Ich weiß so gut wie nichts über die christlich-aramäische oder die christlich-arabische Kultur. Aber ich weiß, wie viel unsere mitteleuropäisch-christliche Kultur den beiden anderen Religionen zu verdanken hat. Der gewaltige Einfluss des Judentums auf die christliche Liturgie liegt ja ohnehin auf der Hand. Aber die Überlieferung des gesamten antiken Wissens – und damit auch die Grundlagen unserer Musiktheorie – verdanken wir den islamischen Universitäten des Mittelalters…

ALON WALLACH:
... und den sephardischen Übersetzern in Spanien.

BERNHARD KÖNIG:
Ohne diesen interreligiösen Austausch wäre unsere europäische Musik- und Geistesgeschichte völlig anders verlaufen.

TUBA IŞIK:
Ich glaube, das Entdecken und Darstellen dieser Querverbindungen ist etwas sehr Trimum-Spezifisches: Dass es eine ständige Wechselwirkung gibt zwischen der Auseinandersetzung mit dem Fremden und dem Eigenen. Das gilt nicht nur für die Musik, sondern auch für das wechselseitige Verständnis der Religionen. Ihr seid Musiker und begegnet euch in der Musik. Aber in dem Moment, wo ihr den Aspruch formuliert, dass wir „interreligiös“ miteinandern singen, müssen wir auch über die Inhalte reden. Und dieser Dialog bedeutet, dass ich meine eigene Position noch einmal neu erschaffe. Indem ich den Anderen mit seiner Tradition kennenlerne, beginne ich auch noch einmal bewusster, mich mit der eigenen auseinanderzusetzen.

ALON WALLACH:
Ist das bei dir selber auch so?

TUBA IŞIK:
Oh ja. Ganz konkret war es so, dass ich im Rahmen meines Studiums der Komparativen Theologie mit einem katholischen Gottesbild konfrontiert worden bin, das Gott sehr stark als „Liebe“ denkt. Daraufhin habe ich mich gefragt: Wie denke ich selbst eigentlich Gott? Was sind für mich seine Wesenseigenschaften? Aus der islamischen Tradition kannte ich zuvor vielleicht eher den gerechten Gott, der die Sünden und Verfehlungen aufrechnet. Aber je mehr ich über das Christentum gelesen habe, umso mehr habe ich in meiner eigenen heiligen Schrift entdeckt, dass auch dort der barmherzige Gott sehr stark gemacht wird. Das heißt: Ich bin Muslimin gelieben, aber durch die Auseinandersetzung mit dem Christentum hat sich mein Gottesbild stark verändert.

AHMET GÜL:
Das ging mir ähnlich – und die Musik hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Ich war zunächst in der Moschee und habe den Koran gelernt. Danach ging ich in die Blindenschule und war fünf Jahre lang in einem Franziskanerinnen-Kloster. Dort habe ich auch die christliche Musik kennengelernt und gesungen. Manchmal habe ich dann in ein- und derselben Woche in der Kirche ein Solo gesungen und in der Moschee den Gebetsruf angestimmt. Irgendwann habe ich mich dann tatsächlich gefragt: Was bin ich eigentlich? Eine Weile lang, während meiner Schulzeit, habe ich dann vorübergehend gesagt: Ich bin ein muslimischer Christ oder ein christlicher Muslim. Ich war sehr erschrocken, dass mir die Leute darauf geantwortet haben: „Das geht nicht, das kannst du nicht sein!“ Schließlich, so dachte ich, muss ich doch selber wissen, ob das geht.
Das blieb dann einige Jahre so – aber man wird ja älter und entwickelt sich weiter. Irgendwann habe ich mich intensiv mit der türkischen Kultur, mit dem Koran und der islamischen Mystik beschäftigt. Und an dieser Stelle habe ich dann zu mir gesagt: „Okay, ich bin Muslim und Türke. Dazu stehe ich.“ Aber das ändert nichts daran, dass ich Bach singe. Ich singe es mittlerweile mit der Überzeugung: „Ich bin ein Muslim und es ist etwas Schönes. Warum soll das nur für die Christen da sein?“. Also importiere ich es in den Islam und in meine Religion mit hinein.

SAAD THAMIR:
Und heute bist du ein entschiedener Muslim?

AHMET:
Ein bereicherter Muslim. Mein Singen im christlichen Bereich hat mich bereichert, aber es hat auch meine Religion und mein Selbstverständnis als Muslim gefestigt.

ASSAF LEVITIN:
Interessant ist doch, dass keiner von uns durch das Kantaten-Singen Christ geworden ist. Es gibt sehr viele israelische Musiker, die eine Passion nach der anderen singen…

ALON WALLACH:
... das stimmt, und ich kenne keinen einzigen Jude, der theologisch irgendwie vom Christentum beeinflusst wäre – egal, wie großartig wir diese Musik auch finden.

ASSAF LEVITIN:
Diese Gefahr der Missionierung ist also offenbar überhaupt nicht vorhanden. Wir alle lernen voneinander, wir übernehmen Ideen voneinander, aber letztlich gefährdet das nicht unsere Identität, sondern stärkt sie eher.

ALON WALLACH:
Mein ehemaliger Gitarrenlehrer hat zu mir gesagt: Wenn ich dir vor zehn Jahren prophezeit hätte, dass du eines Tages sephardische Musik aufführen und arrangieren wirst, dann hättest du einen Stuhl nach mir geworfen. Und bei dir, Assaf, ist es ähnlich: Wir beide mussten erst nach Deutschland gehen, um die jüdische Musik zu entdecken. Bernhard wiederum hat sich mit seinem Projekt eine Art „Ausland im eigenen Land“ kreiert.
Ging es bei dir eigentlich auch darum, die eigene Kultur besser kennenzulernen?

BERNHARD KÖNIG:
Eher das eigene Land als die eigene Kultur. Das eigene Land und seinen kulturellen Reichtum – und dazu gehören auch die kulturellen und religiösen Grenzen, an die man immer wieder stößt und die man auch respektieren sollte und nicht einfach so überschreiten kann. Dieses Paradox – dass wir uns hier miteinander verbinden und Freundschaft schließen, um gemeinsam auch das Trennende, Fremde zu gestalten – finde ich immens spannend und fruchtbar. Und mir scheint, das ist auch genau der Beitrag, den ich als Komponist aus meiner eigenen, protestantisch geprägtenen Kultur einbringen kann: Auf einen ganz konkreten gegenwärtigen Bedarf, einen gesellschaftlichen oder theologischen Widerspruch zu reagieren, indem ich zusammen mit euch eine dazu passende Musik erfinde.
Ein weiterer Beweggrund ist sicherlich auch mein spezifisch deutsches Erbe: Dass ich Bürger und „Ureinwohner“ eines Landes bin, das diese jahrhundertealte Geschichte des Hasses, der Verachtung und Verfolgung anderer Religionen hat. Dass die Generation meiner Großväter eine solch monströse Schuld auf sich geladen hat. Ich empfinde es als ein großes Geschenk und Privileg, dass ich trotz dieser Herkunft mit Menschen zusammenarbeiten und befreundet sein darf, deren Großeltern auf der anderen Seite gestanden haben und vielleicht in Auschwitz oder Buchenwald umgekommen sind.

ASSAF LEVITIN:
Dachau.

BERNHARD KÖNIG:
Ich stamme aus einem Elternhaus, in dem die Kinder der damaligen „Gastarbeiter“ als Nachhilfeschüler ein- und ausgingen. Deshalb hatte die Nachbarschaft zu Muslimen schon von klein auf eine gewisse Normalität für mich. Aber dem deutschsprachigen Judentum bin ich in der Schule, in der Literatur und gerade auch in der Musik immer nur als eine untergegangene, ausgelöschte Kultur begegnet. Das heutige jüdische Deutschland war mir bis vor drei Jahren völlig fremd. Das habe ich erst im Rahmen von Trimum kennengerlernt.
Aber es stimmt schon: Ich wäre vor diesem Projekt nicht auf die Idee gekommen, mich selbst in dieser Deutlichkeit als „Christ“ zu definieren. Wie sehr auch meine religiöse Herkunft mich kulturell geprägt hat, das habe ich erst hier verstanden. Ich liebe die christliche Kirchenmusik und habe häufig in diesem Kontext gearbeitet, aber letztlich habe ich sie von außen betrachtet…

TUBA IŞIK:
...als ein Gegenstand, mit dem du arbeitest…

BERNHARD KÖNIG:
... und plötzlich sitze ich hier und verkörpere oder repräsentiere diese Tradition – allein dadurch, dass ich nicht Jude und nicht Muslim bin.

ALON WALLACH:
Aber ich frage mich trotzdem, was das alles für unsere gemeinsame Arbeit bedeutet. Warum sollte man interreligiöse Musik aufführen, oder ein gemeinsames Singen veranstalten?

SAAD THAMIR:
Davon sprechen wir die doch ganze Zeit. Als eine Reaktion auf alles das, was passiert.

ALON WALLACH:
Aber worauf zielt diese Reaktion? Machen wir das nur für uns selber? Um uns selber besser zu verstehen? Was hat ein Zuhörer davon, wenn er in ein solches Konzert geht?

ASSAF LEVITIN:
Meine Antwort ist – und das gilt generell für jede Kunst: Höchstens einen schönen Abend.

ALON WALLACH:
Aber das hat er auch bei einem Klavierabend. Da ist für dich also kein grundsätzlicher Unterschied?

ASSAF LEVITIN:
Wir Künstler nehmen uns immer sehr ernst und denken: Wenn wir nicht gleich die ganze Welt retten können, dann lassen wir es lieber ganz bleiben. Mir geht es oft selber so. Das zweite Thema in dieser komplexen Symphonie, die wir gemeinsam komponieren, lautet auch bei mir: Was bringt das alles, wenn der Krieg immer nur schlimmer wird? Was wollen diese blauäugigen Christen von uns? Dass wir einander die Hände reichen und ein Liedchen singen?
Aber wirklich einen schönen Abend zu verbringen, das ist in diesem Fall ja gar nicht wenig: Wenn unsere Zuhörer aufgeschlossen sind, dann werden auch sie etwas mehr über die anderen Religionen erfahren und all diese Querverbindungen und verblüffenden Ähnlichkeiten erkennen. Und das kann ein wichtiger Anstoß sein, sich weiter damit zu beschäftigen.
Es geht hier nicht darum, blutige Konflikte zu lösen. Sondern es geht um die Frage, ob es überhaupt möglich wäre, dass Muslime und Juden in Frieden zusammen leben können. Und das können wir nur gemeinsam versuchen. Ich kann keinen Frieden nur mit mir selbst schließen. Jede Begegnung, jedes Stückchen Weg, das wir gemeinsam zurücklegen ist ein Trost, ein Mutmacher, eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

TUBA IŞIK:
Mir scheint auch wichtig zu sein, was Saad vorhin gesagt hat: Dass wir in unserer Zusammenarbeit auf eine Welt reagieren, die voller Krieg ist. Und dass unser Reagieren eine Sehnsucht nach Frieden ausdrückt. Deswegen meine ich, dass das gemeinsames Singen ein Weg sein kann. Jeder bringt seine Erfahrungen, seinen kulturellen und religiösen Hintergrund mit.

AHMET GÜL:
Und wir respektieren bei Trimum diese Religionen und Kulturen so, wie sie sind. Wir wollen sie nicht verändern, sondern suchen eher nach dem, was sie verbindet. Aber wir machen uns auch immer wieder Gedanken darüber: Wie können wir mit den Unterschieden umgehen? Und an den Stellen, wo wir eine bestimmte Aussage nicht teilen und nicht gemeinsam singen können, schaffen wir etwas Neues. Diese Vorgehensweise ist doch bereits eine Botschaft. In dieser Form gilt es weiterzuarbeiten.

TUBA IŞIK:
Es kann eine Signalwirkung haben. Auch wenn wir nur wenige Personen sind.

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