Trimum

2013 - Miteinander singen?

Interreligiöses Chorlabor

Seit Anfang 2013 lädt die Internationale Bachakademie Stuttgart einmal monatlich zum Interreligiösen Chorlabor ein. Jüdische, christliche und muslimische Laiensängerinnen und -sänger können hier mit wechselnden Referenten ein religionsübergreifendes Repertoire an tradierten Liedern und Gesängen kennenlernen und einstudieren.

In mehreren Etappen soll so langfristig die Basis für einen künftigen, jüdisch-christlich-islamischen Projektchor gelegt und ein religionsübergreifendes Repertoire an Liedern, Gesängen, Improvisationsmodellen und Vermittlungsformen erarbeitet werden.

In der Anfangszeit wird einmal monatlich zu ganztägigen Workshops mit wechselnden Themen und Referenten eingeladen. Ab der zweiten Jahreshälfte sollen dann auch mehrtägige Workshops oder längere Probenphasen zu religionsübergreifenden Themen und Konzerten angeboten werden.

Tradition und Neuland

Inhaltlich werden zwei parallele Zielsetzungen verfolgt: Auf der einen Seite wird ein religionsübergreifendes Repertoire an tradierten Liedern und Gesängen einstudiert – vorzugsweise solchen, die nicht im Zentrum des Sakralen stehen und dennoch deutliche Bezüge zur jeweiligen Religion aufweisen; Musik zum jüdischen oder christlichen Hochzeitsfest beispielsweise, türkische Sufi-Gesänge oder arabische ilahîler, wie sie auf der Pilgerfahrt nach Mekka gesungen werden.

Parallel dazu wird in Improvisationsübungen und musikalisch-szenischen Etüden nach neuen Ausdrucksformen gesucht, die den Besonderheiten des interreligiösen Trialogs Rechnung tragen: Erste Skizzen einer »Musik des Trialogs«, die kein geschlossenes religiöses Weltbild thematisiert, die nicht vom ungebrochenen Verhältnis des Gläubigen zu Gott kündet, sondern in der auch Fremdheit und Zweifel, Pluralität und Widersprüche, Distanz und Annäherung ihren angemessenen Ausdruck finden.

Ein Chor für Juden, Christen und Muslime
Dokumentation von Stefan Adam und Alexander Müller

Das Interreligiöse Chorlabor: Die Geburt eines Wunders

Gastbeitrag von Widmar Puhl

Am 13. September 2012 gab es beim Musikfest Stuttgart ein Familienkonzert jüdischer, muslimischer und christlicher Kinder, die gemeinsam religiöse Lieder ihres jeweiligen Bekenntnisses sangen. Das war anrührend. Danach kamen Profis und sangen bzw. spielten auf hohem Niveau neben – und hintereinander her: Die Erachsenen sind noch nicht so weit, wieder wie die Kinder zu werden, dachte ich. Bei diesem Auftakt des TRIMUM-Projekts sah ich dazu im Foyer die Fotos von Jane Dunker. Ich war fasziniert. Aus einem Porträt des Esslinger Sängers Ahmet Gül für den SWR (er hatte den türkischen Part des Konzerts organisiert) wurde persönliches Interesse. So wie der studierte Bassbariton gleichermaßen Bach und Sufi-Musik liebt, kann auch ich mich begeistern für Musik, die das Innerste des Menschen hörbar macht: seinen Glauben – ganz gleich ob jüdisch, christlich oder muslimisch, ganz gleich ob in klassischer Form oder als Gospel, Soul, Blues, Flamenco und Ilahi. Ich wollte erleben, wie das weitergeht. Chöre sind ja Herzenssache und Teamwork. Hier könnte gelingen, was so viele Gelehrte und Politiker nicht schaffen, obwohl sie an einen Gott glauben: kreative Einheit in der Vielfalt. So entstand mein Blog über das, was folgte.

3. Februar 2013: Chorlabor I mit türkischen Pilgerliedern
70 Sängerinnen und Sänger haben sich angemeldet – doppelt so viele wie nötig, sagt Projektleiter Bernhard König. Und praktisch alle singen vom Blatt. König will im weiteren Sinne religiöse Musik aus Christentum, Islam und Judentum in einem Klangkörper zusammenbringen. Dazu müssen die Beteiligten in fremde Musik und Sprachen hineinfinden. Die Bachakademie unterstützt das Projekt unter neuer Intendanz mit großer Offenheit weiter – ohne theologische Vorgaben. Die fachlichen Voraussetzungen scheinen gut; die erste Probe mit einem Kanon von König nach I. Korinther 13,1 und dem Hohen Lied 8,6 klingt schon bald erstaunlich reif.
Selbst in der Mittagspause finden sich in jeder Ecke kleine Grüppchen zusammen. Danach wird es anstrengend für die deutschen Sänger. Dirigent Halil Ibrahim Yüksel stellt die für europäische Ohren fremdartigen Viertelton- und Halbtonsequenzen der klassischen türkischen Pilgerlieder (Ilahis) vor. In Arbeitsgruppen unterstützen ihn Ayshe Gül-Aydin und ihre Freunde vom Verein für Bildung, Kultur und Musik (BKM) Stuttgart durch Übungen zur Aussprache, und dann geht´s los: Vorsingen und Nachsingen, immer wieder, Zeile für Zeile, erst wackelig und dann immefr besser. Dazu kommt Theorie über die Unterschiede zwischen türkischer und deutscher Musiktheorie und Notationsweisen. Einige stöhnen: »Das lernen wir nie«.
Hilfreich sind die Begleitung durch Yüksel an der türkischen Oud und die Unterstützung durch Ahmet Gül mit Gesang und Übersetzungen. Ahmet hat inzwischen das semiprofessionelle Eastern Ensemble gegründet, dessen Mitglieder aus ganz Deutschland kommen. Die Sache zieht also Kreise. Die Einschätzung der Dozenten: Mit Sängern, die so konzentriert und ausdauernd proben, lässt sich viel erreichen. Ob und wie aus diesen Workshops auch Konzerte werden, lassen König und Yüksel aber noch offen: »Wir wollen auch Spielraum für Experimente haben«.

3. März 2013: Chorlabor II über chassidische Synagogalmusik
Geleitet von Assaf Levitin und begleitet von Andreas Eckert am Klavier geht es um geistliche Musik der chassidischen Juden Zentral- und Osteuropas. Nach Atemübungen mit der Musikpädagogin Käthe Krokenberger von der PH Ludwigsburg übernimmt Levitin das Einsingen und die Proben. Kaum zu glauben, dass Levitin von der Potsdamer Geiger-Kantorenschule bisher nur als Solist gearbeitet hat. Er ist auch ein großartiger Chorleiter. Nach speziellen Dehnübungen und diversen Ritualen zum Einsingen kommen Spiele zum gegenseitigen Kennenlernen. Denn Levitins Credo Nr. 1 lautet: »Auch der beste Solist kann keinen einzigen Akkord allein singen. Im Chor sind wir aufeinander angewiesen und müssen uns aufeinander verlassen können«. Lehrsatz Nr. 2 lässt sich in einem Wort verfassen: »Hingabe«. In der chassidischen Musiktheorie und Theologie gilt, dass schon allein das Singen bestimmter Melodien Gottesdienst sei, auch ohne eine einzige Silbe Text. Dazu nickten einige der Muslime im Chor; die Sufis sehen das ganz ähnlich.
Levitin lobt: Hier treffen sich keine Profis, aber doch viele semiprofessionelle Sänger oder zumindest engagierte Laien mit Erfahrung in diversen Chören. Sonst hätte dieser Chor nicht das »Chassidic Nigun«vom Blatt gesungen – zwar noch ein wenig verhalten und nicht ganz fehlerfrei, aber immerhin vierstimmig! Ich bin beeindruckt. Die Annäherung an hebräische Texte ist für die Nichtjuden wohl die größte Herausforderung.

7. April 2013: Chorlabor III mit mystischen Gesängen der Aleviten
Diesmal stellt die Sängerin und Lehrerin Sirin Üstün mit traditionellen Musikern alevitische Musik vor. Und dabei wird die zunehmende Komplexität der selbstgestellten Aufgabe noch deutlicher als bisher. Die Unterschiede zu den türkisch-sunnitischen Pilgerliedern oder den extatischen Gesängen der Sufis sind mit gutem Willen für den musikalisch gebildeten Mitteleuropäer hörbar. Aber sind sie auch ohne weiteres umsetzbar? Die Schwierigkeit der Materie steigt. Jede der bisher vorgestellten musikalischen Traditionen stellt neue Ansprüche an die Sänger – ganz abgesehen von den Sprachen.
Besonders kompliziert ist es bei der muslimischen Musik: Statt unserer siebenstufigen Tonleitern in Ganztonschritten (die naturlich Halb-, Viertel-, Achtel- und Sechzehnteltöne einschließen) in Dur und Moll gibt es hier generell »nur« so genannten »Komma-Tonleitern«, bei denen die meisten Tonschritte in Zehnteln gemessen werden.
Wie komplex das ist, erklärt Ahmet Gül: »Ein Klavier, mit dem man das auch nur annähernd spielen könnte, müsste über drei Meter breit sein und wäre für menschliche Arme nicht mehr beherrschbar«. Die Anpassung für das Ohr der Sänger stelle ich stelle mir ähnlich schwierig vor wie das Bearbeiten unterschiedlicher Rhythmen mit Händen und Füßen am Schlagzeug – nur eben ganz anders. Also bleibt es zunächst beim Zuhören auf der einen und einer Demonstration auf der anderen Seite. Ein paar Durchgänge für die Sänger bleiben eher schüchtern, aber Sirin Üstün sagt: »Der Spaß ist bei allen ungebrochen«. Auch wenn hier viele der deutschen Sänger an ihre Grenzen stoßen – sie halten durch.
Das Chorlabor stellt auch theologisch-philosophisch hohe Ansprüche. Mir scheint, das Nachdenken über theologische Prioritäten und die Suche nach Formen des gemeinsamen Singens, die dafür Freiraum lassen, hilft bei sprachlichen und musikalischen Schwierigkeiten. Als Beispiel wählt Projektleiter Bernhard König ein christliches Lied mit dem Inhalt des Glaubensbekenntnisses. Jeder und jede für sich kann sich hier musikalisch ausruhen, um theologisch Position zu beziehen und seine Position auch philosophisch zu begründen. Mein Verdacht bestätigt sich: Hier lernen die Sänger mehr als das Singen in fremden Sprachen und Tonarten. Da entstehen religionsübergreifend Verständnis, Respekt und Sympathie. Ein gutes Zeichen: wenn Menschen bei harter Arbeit häufig lachen. Das selbstgemachte Mittagsbüffett gehört inzwischen schon so dazu wie das Singen selbst.

5. Mai 2013: Chorlabor IV mit Alter und Neuer Musik zu Pfingsten
Unter der Leitung des Domkantors und Dirigenten Christian Schmid (St. Eberhard, Stuttgart) arbeiten die Teilnehmer an Beispielen für den Gregorianischen Choral, die älteste überlieferte Form christlicher Kirchenmusik. Als Warm Up dient ein interreligiöses Kinderlied, das Bernhard König frisch von seiner »Tübinger Libretto-Werkstatt« mitgebracht hat.
Nach einigen leichteren Übungen geht es an die Pfingstmesse nach der Handschrift von St. Gallen – »und das ist richtig schwer«, gibt Schmid verständnisvoll zu. In der Entstehungszeit dieser Musik (600-800 n. Chr.) existierte noch keine Notenschrift, sondern nur eine grobe »Quadratnotation«. Daher wurden die behelfsmäßigen Notenpunkte mit zahlreichen »Neumen« versehen – kurzen, oft kryptisch wirkenden Zusatzzeichen über den Notenpunkten, die Angaben zu Längen, Dehnungen, aufsteigenden oder absteigenden Sequenzen etc. darstellen. Das ist eine Wissenschaft für sich.
Da heißt es dann: hören, üben, wieder hören und wieder üben, bis man die Melodie im Kopf und die Feinheiten im Auge behalten kann. Zudem hatte jede Region Europas ihre eigene Schreibweisen, Überlieferungs- und Intonationsdetails. In solchen Unterschieden kann man sich durchaus verlieren. Die gemeinsamen Wurzeln christlicher und islamischer Sakralgesänge aus jüdischen Vorläufern jedoch waren im Mittelalter noch deutlich hörbar.

Der Nachmittag gehört einem Ausflug mit Bernhard König in die experimentelle Chormusik: »Die Suche nach einer Sakralmusik, die für die Praxis in Synagoge, Kirche und Moschee taugt, könnte hier am besten vorankommen.« Und wieder staune ich, wie leichtfüßig ihm der Chor dabei folgt.

27. Mai 2013: Chorlabor V mit sephardischer und arabischer Ritualmusik
Den Auftakt zum diesmal zweiteiligen Workshop machen Alon Wallach und die Sopranistin Sylvia Lustig mit dem Thema »Sephardische Musiktraditonen«. Der in Jerusalem geborene, in Stuttgart lebende Gitarrist Wallach stieß nicht in Israel oder Andalusien auf das Erbe der Sephardim, sondern als Student in Stuttgart – ein schönes Beispiel für die doppelte kulturelle Bereicherung durch solche Zuwanderer. Die mediterranen sephardischen Juden haben die spanische Musik geprägt. Wallach referiert über die klassischen Liedformen der »Romances«, »Cantigas« und »Coplas«, praktische Beispiele liefert Sylvia Lustig. Natürlich interpretieren Lustig und Wallach – und dabei kann es durchaus vorkommen, dass die Renaissance-Melodie zu einem traurigen Text sehr lebensfroh daherkommt.
Danach führt Samir Mansour in die Grundlagen der arabischen Musik und der arabischen Sprache ein. Er stammt aus Damaskus, lebt seit 13 Jahren in Stuttgart und hat klassische Musik studiert (Tuba). Er gibt auch als Lautenist Unterricht in arabischer Musik und hat einen deutsch-arabischen Chor gegründet. Das erste Stück, das er vorstellt, heißt »Ya Rabb« (Oh Gott). Es handelt davon, dass die Menschen, gleich ob gebildet oder ungebildet, Gott nicht begreifen. Er sende den Menschen ständig Zeichen, doch die blieben taub und blind. Vier Zeilen in arabischer Sprache sind zu lernen, und dann 87 Takte im Zweivierteltakt. Und ich finde: Inzwischen hat der Chor eine beachtliche Routine im Umgang mit fremden Sprachen und Noten entwickelt.
Höhepunkt des Tages: ein Experiment, bei dem der Choral »Ich weiß, woran ich glaube« mit einem türkischen Solo von Ahmet Gül, dem arabischen »Ya Rabb« und dem hebräischen Lied »Eli, Eli« zu einem Medley von 5:30 Minuten wird. Auch wenn dem Arrangeur Bernhard König noch einige Ergänzungen vorschweben: Das sind die Augenblicke, wo König und die Sänger zu ganz großer Form auflaufen. Dann könnte ich schier heulen vor Glück.

7. Juli 2013: Chorlabor VI mit Neuer und Alter Musik
Beim zweiten Workshop mit Assaf Levitin und Andreas Eckert steht zunächst Improvisation auf dem Programm: laut Bernhard König »eine spannende Zumutung für die Sänger«, diesmal aus Quellen der jüdischen Synagogalmusik. Angekündigt hat Levitin »Gesänge, die teilweise so alt sind, dass sie Moses vom Berg Sinai mitgebracht haben könnte«. Aber eben auch »Klangwolken«, die eher zur Neuen Musik gehören und für die Chorliteratur bisher eher untypisch sind.
Andreas Eckert übt anschließend das Credo aus Dvoráks D-Dur-Messe ein – ebenfalls relativ unbekannte Kirchenmusik. Sie ist eigentlich für einen kleinen Chor geschrieben. In so großer Besetzung entfaltet sie ein Klangvolumen von großer Tiefe und Breite, auch wenn wieder Männer fehlen (Tenöre und Bässe). Tapfer werfen sich Levitin, Dozent Eckert und König in die Bresche – besser als nichts, aber nicht genug. »Wäre ja auch noch schöner, wenn man das nicht hören würde«, schmunzelt eine der Damen.
Nach dem Kaffee macht Assaf Levitin dem Chor ein großes Kompliment. Nach der ersten gemeinsamen Probe habe er sich so inspiriert gefühlt, dass er ein vierstimmiges Arrangement für »Shirat Ha-Awassim« (»Der Gesang der Gräser«) von Naomi Shemer geschrieben habe. Das philosophische Lied nach einem Text des berühmten Rabbi Nachman aus Breslau erzählt von den Melodien der Schöpfung, die Sehnsucht nach dem Schöpfer erzeugen und zu einem Gesang des Herzens werden. »An dieser Partitur haben Sie alle eine Stammaktie«, erklärte Levitin. Beifall. Der Rest ist harte Arbeit, bei der vor allem den Sängerinnen viel Lob kassieren. »Die Bässe haben es immer einfacher«, gibt Levitin zu. Mit einem eingebauten Kanon und extremen Tonsprüngen stellt das Werk besonders hohe Anforderungen.
Das Chorlabor bietet in diesem Jahr eine umfassende Reise durch die religiöse Chormusik an. Dafür charakteristisch ist eine ganz eigene Mischung aus Praxis, Theorie, Spracharbeit und Empathie, die jedes Mal auch neue Gefühlswelten erschließt. Anregungen sind keine Erinbahnstraße und fließen in alle Richtrungen. Der Geist weht, wo er will. Das gemeinsam zu erleben, hat etwas Magisches.

Quelle: puhlswritinglife.blogspot.de (Zusammenstellung für www.trimum.de durch den Autor)