Projektbeschreibung aus dem Jahr 2017
Welche Rolle kann Musik in einem Stadtteil spielen, in dem Menschen aus über hundert Nationen auf engstem Raum beieinander leben? Kann sie zu einer stimmigen Balance zwischen Gemeinschaftsgefühl und kultureller Eigenart beitragen? Kann sie wichtigen örtlichen Themen eine Stimme geben? Was kann man zum Schulanfang oder beim Stadtteilfest singen? Wie soll man die interreligiöse Hochzeit oder den Abschied von einem verstorbenen Mitschüler gestalten? Oder, kurz gefragt: Welche Musik braucht ein Stadtteil wie „Mümmel“?
Mümmelmannsberg ist eine Hamburger Großsiedlung mit rund 19.000 Einwohnern. Viele der Menschen hier leben von Hartz 4, rund 60% der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. In der jüngsten Generation ist der Migrationsanteil noch sehr viel höher: 90% und mehr beträgt er in den beiden örtlichen Grundschulen. Von außen betrachtet ist Mümmelmannsberg ein typischer „sozialer Brennpunkt“. Entsprechend schlecht ist der Ruf des Stadtteils im restlichen Hamburg.
Doch die Bewohner selbst identifizieren sich mit ihrem Kiez. Man empfindet sich nicht als Hamburgerin oder Hamburger, sondern versteht „Mümmel“ als einen eigenen, in sich geschlossenen und kulturell vielfältigen Heimatort. Eine Begegnung zwischen den Kulturen und Religionen muss hier nicht erst initiiert werden – sie findet ohnehin tagtäglich statt.
Seit 2016 haben sich engagierte Bürger/innen auf den Weg gemacht, diese Vielfalt zum Gegenstand eines neuen Zukunftsberufes und einer neuen Form von Stadtteilkultur zu machen. Ihr Traum: Ein „Stadtteilkantorat“, in dem interkulturell, interreligiös und generationsübergreifend musiziert wird.
Unterstützt werden sie dabei von örtlichen Gemeinden, Schulen und Sozialeinrichtungen – und von Trimum, das diesen Weg von Anfang an begleitet und gestaltet hat.
Wie muss eine Musik beschaffen sein, die zu einem solch bunten und vielfältigen Stadtteil passt? Diese Frage darf nicht einseitig von einem vorgegebenen Kulturverständnis her gedacht werden. Es geht nicht darum, die hier lebenden Menschen an dieser oder jener Musikkultur „partizipieren zu lassen“. Die Aufgabe des Stadtteilkantors oder der Stadtteilkantorin besteht vielmehr darin, musikalische Brücken zwischen den Kulturen, Religionen, Herkünften und Generationen zu schlagen, ohne ihre jeweiligen Eigenarten zu nivellieren oder die Menschen in eine bestimmte Richtung “missionieren” zu wollen. Um dies zu erreichen, stellt sich das Stadtteilkantorat konsequent in den Dienst der Menschen vor Ort und ihrer kulturellen Bedürfnisse.
Musik wird auf diese Weise wird zum Ausdruck eines vielstimmigen Wir-Gefühl und zum Medium und Gegenstand eines permanenten wechselseitigen Lernens. Senioren lernen von Kindern, Alteingesessene von Migranten – und umgekehrt. Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft bringen sich gegenseitig ihre Lieder bei und lernen auf diese Weise, Fremdheit als Vielfalt zu erleben und zu feiern.
Unser langfristiger Traum: Ein dauerhaftes „Stadtteilkantorat“, in dem das interkulturelle, interreligiöse und generationsübergreifende Musizieren zu einem zentralen Baustein einer übergeordneten Stadtteilidentität wird. Zu diesem Zweck möchten wir das Stadtteilkantorat auf feste Füße stellen und den „musikalischen Brückenschlag“ zu einer dauerhaften Institution machen. Ganz bewusst streben wir dabei nicht nach großen, spektakulären Events. Wir wollen kein kurzlebiges “Leuchtturmprojekt”, das auf einer großen Bühne beklatscht wird und sich danach wieder auflöst.
Dennoch setzen wir auch auf Außenwirkung. Denn wir sind überzeugt, dass das, was wir in Mümmelmannsberg ausprobieren, ein Modell für viele andere, ähnlich strukturierte Stadtteile sein kann. In einer Welt, die sich kulturell rasant verändert, ist der oder die Stadtteilkantor*in in unseren Augen ein Zukunftsberuf. Man kann diesen Beruf gegenwärtig an keine Universität erlernen. Doch viele Fragen und Probleme, mit denen wir hier konfrontiert sind – die Segregation der Bevölkerung, Salafismus und Rechtsextremismus – besitzen eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz. Aus diesem Grund möchten wir die Multiplikator*innen von morgen in unsere Arbeit einbeziehen und ihnen die Chance geben, in „Mümmel“ erste eigene Gehversuche im musikalischen Dialog der Kulturen, Religionen, Herkünfte und Generationen zu unternehmen. Zu unserem “utopischen” Fernziel gehört deshalb auch ein Ausbildungsangebot für künftiger Stadtteilkantor*innen. So könnte das Stadtteilkantorat nach innen in den Stadtteil wirken und zugleich als Ausbildungsstätte und Zukunftslabor, Spielwiese und Forschungsfeld für angehende „musikalische Brückenbauer“ fungieren.
Normalerweise ist der Begriff „Kantor*in“ an eine eindeutige Religionszugehörigkeit geknüpft. Ein christlicher oder jüdischer Kantor ist Experte für die liturgischen und musikalischen Traditionen seiner Religion und ist für deren Pflege und Weiterentwicklung zuständig.
Die von uns entwickelte Idee eines brückenbauenden Stadtteilkantorats hingegen fühlt sich nicht einer einzelnen Religion verpflichtet. Man muss nicht gläubig sein oder überhaupt einer Religion angehören, um mitwirken zu können. Unser Ziel ist es, den Kantorenberuf neu zu definieren.
Kantor/innen tragen zur Gestaltung zentraler Feiern und Anlässe bei, die eine hohe symbolische Bedeutung haben: Von der Taufe oder Beschneidung über die Hochzeit bis zur Beerdigung. Sie begleiten eine Gemeinde durch das Jahr und geben ihrem Gedenken, ihrem Dank, ihren existentiellen Fragen und ihrer Selbstvergewisserung als zusammengehörige Gemeinschaft einen klingenden Ausdruck. Häufig leisten sie auch eine langfristige musikalisch-pädagogische Aufbauarbeit, etwa in Form von regelmäßigen Chorangeboten für unterschiedliche Altersgruppen.
Dies alles – so unser Traum – soll langfristig auch das Stadtteilkantorat leisten. Aber eben nicht geknüpft an eine bestimmte Religion oder Kultur, sondern getragen von der Grundidee des interkulturellen Brückenschlags.
Traditionelle religiöse Wertesysteme spielen dabei durchaus eine wichtige Rolle: Ihr Konflikt- und Friedenspotential spielt im Stadtteil eine wichtige Rolle. Das Stadtteilkantorat wird deshalb nur eine Chance haben, wenn es die Gebote und Grenzen der einzelnen Religionen respektiert und religiöse Vielfalt als Chance und wertvolle Ressource erkennt.
Dürfen muslimische Frauen öffentlich singen? Welche religiösen Feste können wir miteinander feiern und welche nicht – und wie kann man auch Atheisten in diese religiöse Feierlichkeiten einbinden, ohne dass sie sich verleugnen müssen? Wie kann den Feindseligkeiten und Ausgrenzungen religiöser Gruppen unter Jugendlichen entgegengewirkt werden? Wie gibt man den Verzweifelten und Verbitterten im Stadtteil eine musikalische Stimme? Was kann man religionsübergreifend miteinander singen, wenn man gemeinsam um einen verstorbenen Freund trauert? Fragen wie diese sind wichtig, wenn Stadtteilkultur mehr sein soll, als nur eine harmlose „Gutwetter-Veranstaltung“. Wir wollen Antworten auf diese Fragen finden.