Trimum

TRIMUM - Musik weiter denken

Warum der Islam Deutschland schöner macht

von Bernhard König

Die Zahl hat mich erschüttert. 76% der Deutschen sind einer Umfrage vom März 2018 zufolge der Ansicht, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.[1] Weniger als ein Fünftel der Bevölkerung empfinden den Islam als einen Teil ihres Landes. Erschüttert war ich, weil ich mit einer so erschreckend und absurd hohen Zahl nicht gerechnet hatte. Hätte man mich raten lassen, dann hätte ich gesagt: Vielleicht denkt ein Viertel der Bevölkerung so. Mit einer Dreiviertelmehrheit aber hätte ich nie und nimmer gerechnet. Die zweitgrößte Religion des Landes (und dies seit mittlerweile einem halben Jahrhundert!) gehört für so viele noch immer „nicht dazu“?

Habt ihr, liebe 76 Prozent, wirklich so wenig Vertrauen in unser Land? Glaubt ihr ernsthaft, ihm in einem solchen Maße jede kulturelle Anschlussfähigkeit absprechen zu müssen? Seid ihr wirklich der Auffassung, dass für einen Teil eurer Mitmenschen jegliches Bemühen um Beheimatung vergeblich und vergeudet bleiben muss, weil ein essentieller Teil ihrer Identität – nämlich ihre Religionszugehörigkeit – sie in euren Augen unabänderlich zu Außenstehenden macht? Und könnt ihr, liebe 76 Prozent, nicht erkennen, wie wertvoll und unselbstverständlich angesichts der religiösen Kriege und Konflikte in aller Welt der Religionsfrieden in unserem Land ist? Habt ihr schon vergessen, wie schmerzhaft, unter welchem Übermaß an Schuld und Opfern, dieses friedliche Neben- oder Miteinander gerade in Deutschland erlernt werden musste? Sind denn diejenigen unter euch, die so gerne den Stolz auf ihre „Leitkultur“ vor sich hertragen, nicht auch ein klein bisschen stolz auf unsere Verfassung mit ihrem klug austarierten Modell einer Religionsfreiheit, die zum Beispiel den Religionsunterricht zur öffentlichen Sache erklärt, zugleich aber keinem Kind die Teilnahme daran vorschreibt und dem Staat aufträgt, inhaltlich neutral zu bleiben?
Aber ich fürchte, um dies alles geht es gar nicht. Es geht bei einer solchen Umfrage nicht um verfassungsrechtliche, politische, soziologische oder institutionelle Fragen, sondern um die „gefühlte“ Zugehörigkeit – und die kann nun mal nicht mit Argumenten bewiesen oder widerlegt werden.
Es sei deshalb einen Moment lang versucht, dieses 76-Prozent-Gefühl wenigstens ansatzweise zu verstehen. Wenn ein Großteil der Deutschen nur jenes hässliche Bild des Islam kennt, das durch theokratische Regimes und eine Minderheit von sich „islamisch“ nennenden Verbrechern geschürt und von einer medialen Erregungsmaschinerie pausenlos verstärkt wird; wenn man selbst, außer im Tunesien-Urlaub, noch nie eine Moschee von innen gesehen hat und das islamische Gebet nur aus Tagesthemen-Berichten über salafistische Hassprediger kennt; wenn dann zusätzlich auch noch jeglicher eigene, aktive Kontakt zu gläubigen Muslimen fehlt und man in deren religiösen Bräuchen und Normen deshalb nur das Fremde, Andersartige zu erkennen vermag, dann kann es bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar sein, dass dieses Erfahrungs- und Wissensdefizit Fremdheitsgefühle auslöst.

Letztlich war die Frage falsch gestellt. Sie tut so, als könnten die Befragten nach Lust und Laune definieren, was „Deutschland“ ist. Richtig gestellt würde die Frage lauten: Wollt ihr, dass das, was ihr über den Islam wisst oder zu wissen glaubt, ein Teil eures Umfelds, eurer Umgebung, eurer persönlichen Welt ist? Und diese Frage beantworten 76 Prozent mit „nein“.
Es geht also bei dieser Umfrage nicht darum, ob oder warum oder unter welchen Bedingungen der Islam zu Deutschland gehöre. Ihr Ergebnis zeugt vielmehr von der traurigen Wahrheit, dass islamische Kultur und muslimisches Leben für eine Dreiviertelmehrheit der Deutschen außerhalb ihres eigenen kulturellen Horizontes angesiedelt sind und sie selber sich diesem Teil ihres Landes nicht zugehörig fühlen. Das ist bitter – und wird damit umso mehr zur Herausforderung und Aufgabe für jene 24 Prozent, die ihr Land weniger eng sehen.

Auf die Zwischentöne kommt es an
Fremdheitsgefühle lassen sich nicht wegargumentieren. Jeder Mensch kennt sie; ohne sie gäbe es keine kulturelle Identität. Zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit unterscheiden zu können, ist ein überlebenswichtiger und in frühester Kindheit erlernter Entwicklungsschritt. Ich persönlich beispielsweise hege starke Fremdheitsgefühle gegenüber Angehörigen schlagender Verbindungen, Traditionskarnevalisten oder Investment-Bänkerinnen (und würde dennoch nicht leugnen, dass auch sie zu Deutschland gehören).
Ob und wie es sich trotz Fremdheitsgefühlen zusammenleben lässt, ist eine der ältesten, kontroversesten und grundlegendsten Fragen zivilisatorischer Prozesse. Sie muss immer wieder neu verhandelt und austariert werden – und genau dies ist es, was gegenwärtig auf allen Ebenen geschieht. Das ist zunächst begrüßenswert. Doch wenn ich mit den Ohren des Musikers in diese Debatte hineinhorche, dann muss ich sagen: Sie ist leider extrem schlecht orchestriert. Wenn ich die Blechbläser fortwährend im Fortissimo spielen lasse, hat die Solobratsche keine Chance.
Terror, Provokation, fundamentalistisches Auftrumpfen und aggressiv ausgrenzendes Säbelrasseln sind plärrend laut. Sie produzieren schlagkräftige Bilder. Fortissimo-Bilder, die in der ntv-Nachrichten-Dauerschleife oder auf dem Online-Portal zuverlässig als „Catcher“ funktionieren. Bilder, die auf den ersten Blick „Gefahr“ oder „Demütigung“ oder „Fanatismus“ signalisieren und diese Botschaft wirkungsvoll mit dem Motiv der kulturellen Fremdheit kurzschließen.
Die Frage aber, wie in einer heterogenen Gesellschaft mit einander spiegelnden Fremdheitsgefühlen und identitären Verunsicherungen umgegangen werden kann, lässt sich nicht in brüllender Lautstärke verhandeln. Hier kommt es auf Bratsche, Langhalslaute und Neyflöte an: auf die Zwischentöne. Doch leider produzieren gerade jene interreligiösen Verständigungsprozesse, die solchen Feinheiten Raum geben, keine Schlagzeilen und sind den Medien selten eine Erwähnung wert.
Aber warum eigentlich nicht? An fehlender historischer oder gesellschaftlicher Relevanz kann es nicht liegen: Religiöse Konflikte gibt es an vielen Orten und hat es zu allen Zeiten gegeben. Das Maß an interreligiöser Verständigung, Freundschaft und Kooperation hingegen, das wir seit einer Dekade in Deutschland erleben, ist historisch einmalig und auch in globalem Maßstab mehr als bemerkenswert. Warum also nicht einmal in diese sehr viel leisere Welt hineinlauschen?

Vom Fremden zum Vertrauten
Zum Beispiel in die Musik selbst. Antworten zu geben, Probleme zu lösen, Frieden zu stiften vermag sie aus eigener Kraft sicherlich nicht. Aber sie kann Zwischentöne hörbar machen. Gerade die Ambivalenz von Fremdheit kann sie in besonderem Maße sinnlich wahrnehmbar machen. In der Musik kann Fremdes schön, die Dissonanz eine Bereicherung sein. Ein- und dasselbe Musikstück kann aufgrund seiner Fremdheit beim ersten Hören Ablehnung oder Desinteresse, beim zweiten Hören Neugierde und Faszination wecken. Beim fünften Mal kann man es mitsingen, beim achten ist es womöglich schon wieder ein wenig langweilig geworden.
Musikalische Schönheit liegt im Ohr der Hörer/innen – und manchmal ändert sich das Hören kollektiv. Wer kulturell vom Deutschland der 30er und 40er Jahre geprägt wurde, hatte es in der Nachkriegszeit vielfach schwer, bei Beat, Jazz und Rock’n'Roll etwas anderes als körperliches Unbehagen zu empfinden. Heute ist Popmusik, vom Kindergarten bis in die Senioren-WG und von links bis rechtsaußen, gesinnungs- und generationsübergreifender Mainstream.
Es deutet einiges darauf hin, dass wir gegenwärtig erneut am Beginn eines kollektiven Hörwandels stehen. Viele Jahrzehnte lang begegnete unser Land den Musikkulturen seiner Einwanderer mit Desinteresse. Seit einigen Jahren aber beginnt die hiesige Musikwelt sich verstärkt für jene Klänge, Melodien und Instrumente zu interessieren, die mit den Migranten und Geflüchteten ins Land kommen. Städtische Musikschulen beginnen, neben Flöte und Klavier auch Oud und Bağlama als gleichrangige Unterrichtsfächer zu entdecken; bundesweit entstehen neue Musikprojekte, die an arabische, persische oder osmanische Traditionen anknüpfen; eine stetig wachsende Zahl von Musikfestivals ist der Begegnung von Orient und Okzident gewidmet.

Gerade in den letzten zwei Jahren hat diese Entwicklung stark an Dynamik gewonnen. Genährt wird sie durch die vielen großartigen Musiker, die in Deutschland Zuflucht finden konnten und mussten – sei es, weil ihnen nach der Zerstörung der einstigen Kulturhochburg Aleppo jegliche Lebensgrundlage abhanden kam; sei es, weil sie als praktizierende Sänger im „Gottesstaat“ Iran von Drangsalierung, Inhaftierung und Folter bedroht waren. Öffentlich singen zu dürfen, ohne Gefahr an Leib und Leben sogar mit Menschen einer anderen Religionszugehörigkeit musizieren zu können, ist für viele von ihnen eine unendlich befreiende und erlösende Erfahrung.
Sie alle sind politischem und religiös begründetem Terror entkommen, manche von ihnen sind Atheisten, andere Christen oder Muslime – und nicht wenige sehnen sich schon seit langem wieder nach einem friedfertigen, zivilen Islam, der Glaubensüberzeugung sein darf, ohne Staatsreligion oder theokratisches Machtinstrument sein zu müssen. Als Musiker hoffen sie zudem darauf, dass ihre uralten Musikkulturen in Europa überleben können (so wie vor acht Jahrzehnten große Teile des deutschen und österreichischen Musiklebens nur im kalifornischen Exil weiterexistierten konnten, wo die Flüchtlinge des Nazi-Regimes nachhaltig den orchestralen Hollywood-Sound prägten). Wollen wir sie wirklich mit der Ansage begrüßen: Eure Religion und Kultur gehören nicht hierher?

Zum Glück scheint der Prozentsatz derer, die so denken, in der Musikwelt deutlich unter 76 Prozent zu liegen. Viele Musikinstitutionen haben sich schon seit längerem das Ziel gesetzt, konstruktiv auf die wachsende kulturelle Heterogenität der Gesellschaft zu reagieren und inhaltlich vielfältiger zu werden. So verknüpft sich die wachsende Präsenz orientalischer Musiktraditionen auf sehr dynamische Weise mit einem gewachsenen Stellenwert von kultureller Bildung, Musikvermittlung und neuen Crossover-Formaten. Das Ergebnis ist ein vielfältiger und hochspannender Prozess der Begegnung und des wechselseitigen Lernens, der selber eine Fülle neuer Zwischentöne generiert und sich für die Musik langfristig als ähnlich fruchtbar und historisch einschneidend erweisen dürfte, wie einst die Entstehung des Jazz oder die musikalischen Umwälzungen im Gefolge der Reformationszeit.

Interkulturell ist nicht interreligiös
Wenn sich orientalische und europäische Musikkultur begegnen, dann hat dies allerdings noch lange nichts mit „dem Islam“ zu tun. Interkulturelle Begegnung in der Musik lässt sich leicht herstellen. In Videos, auf Tonträgern, auf Weltmusikfestivals oder im klassischen Konzertsaal lässt sich problemlos alles mit allem mischen und collagieren: Arabische Maqams treffen auf westliche Blue-Notes, osmanische Hofmusik begegnet Mozartschen Orientalismen.
Interreligiöse Begegnung in der Musik hingegen ist deutlich komplizierter. Sie hat, neben den handwerklichen und ästhetischen Fragen einer innermusikalischen Stimmigkeit, auch die Grenzen, Tabus und Normen einer stark prägenden, mitunter sogar normativ bindenden religiösen Ästhetik zu berücksichtigen. Im mitteleuropäischen Christentum begegnen uns diese Grenzen heute nur noch in einer stark abgemilderten Form. In Sachen Musik ist in unseren Kirchen heute, anders als in früheren Jahrhunderten, vom getanzten Kyrie bis zum Techno-Gottesdienst fast alles erlaubt. Ganz anders sieht es beispielsweise in der jüdisch orthodoxen Synagoge aus, wo Instrumentalmusik ebenso tabu ist wie das gemeinsame Singen von Männern und Frauen.
Geht es hingegen um das Verhältnis des Islam zur Musik, dann stößt man hierzulande bei den meisten Nichtmuslimen, aber auch bei vielen hier lebenden Musliminnen und Muslimen auf große Unsicherheit und viele Fragen: Gibt es denn im Islam überhaupt religiöse Musik? Wird in der Moschee gesungen? Oder ist Musik für „strenggläubige“ Muslime vielleicht sogar gänzlich verboten?

In unserer Publikation Singen als interreligiöse Begegnung [2] haben wir versucht, diese Fragen in mehreren Aufsätzen und Interviews eingehend und mit der gebotenen Vielstimmigkeit zu beantworten. Es seien deshalb an dieser Stelle nur die wichtigsten Antworten zusammengefasst. Wie auf viele andere gibt es auch auf diese Fragen nicht „die“ eine islamische Antwort, sondern eine Vielfalt an Rechtsschulen, kulturellen und konfessionellen Ausprägungen. Stark verallgemeinernd wird man aber sagen können, dass „der“ islamische Musikbegriff sich fundamental vom christlichen unterscheidet. Auch wenn es in manchen Ländern einen reichen Fundus an religiösen Liedern gab oder gibt, kennen die meisten islamischen Strömungen keine gesungene Liturgie. Religiöser Gesang kann durchaus gemeinschaftsstiftend, sittlich bereichernd und pädagogisch wertvoll sein, besitzt aber anders als im Christentum oder Judentum in der Regel keine eigene transzendente Qualität.[3] Die Vorstellung eines „vertonten Gebets“ oder der Gedanke einer Instrumentalmusik, die allein mit Tönen auf Höheres und Göttliches verweist, ist den islamischen Traditionen größtenteils fremd; großdimensionierte geistliche Kompositionen gibt es nicht.
Aus christlich-abendländischer Perspektive wird die religiöse Musik des Islam auf den ersten, oberflächlichen Blick deshalb gerne als „unterentwickelt“ wahrgenommen. Doch was auf den ersten Blick von außen wie eine religiös fundierte Geringschätzung der Musik wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als das genaue Gegenteil: Als eine tiefe Wertschätzung des Klanglichen, für die es im Christentum keine Entsprechung gibt. Wenn die Musik im Islam eine deutlich geringere Rolle spielt, als im Christentum oder Judentum, dann vor allem deshalb, weil sie im religiösen Wertesystem des Klingenden mit weitem Abstand an zweiter Stelle steht. Der erste Rang gebührt einzig und allein jener Kunstform, die nach islamischem Verständnis weder „Kunst“ noch allein von Menschen geformt ist: Der Koranrezitation.

Wenn der Koran erklingt, dann ist es für gläubige Muslime „Gott selbst, der sich darin vernehmbar macht“.[4] In der Koranrezitation offenbart und „materialisiert“ Gott sich durch die klingende Stimme des Rezitierenden hindurch in einer ähnlichen Unmittelbarkeit, wie sie das Christentum in der Vorstellung eines in Jesus menschgewordenen Gottes kennt. Die Koranrezitation kann deshalb aus islamischer Sicht keine „Musik“ sein (so wie beispielsweise auch die katholische Eucharistie kein „Frühstück“ oder „Mittagessen“ ist), sondern sie ist um Vieles mehr, als menschengemachte Musik es je sein kann.
Musikalische Schönheit liegt im Ohr des Hörers. Mir persönlich ist die Koranrezitation auch nach mehrjähriger Auseinandersetzung zutiefst fremd geblieben. Zugleich – oder gerade deswegen – gehört sie für mich zum Schönsten, ästhetisch Wertvollsten und Herausfordernsten, dem ich im Laufe meines Musiker-Lebens begegnen durfte. Ich bin deshalb froh und dankbar, dass die Koranrezitation in zunehmenden Maße auch „zu Deutschland gehört“ und würde mir wünschen, dass sie viel häufiger in der Öffentlichkeit zu hören wäre – und dies nicht nur im religiösen Kontext, sondern auch und gerade im säkularen Konzertsaal.

Bereicherung in zwei Richtungen
Der Koran im Konzertsaal? Zwischen Mozart, Mendelssohn und Ligeti? Oh ja! Der Gedanke mag für christliche oder atheistische Konzertgänger zunächst ebenso befremdlich und gewöhnungsbedürftig sein, wie für die meisten Musliminnen und Muslime. Im Rahmen unseres interreligiösen Musikprojektes Trimum haben wir ihn in den letzten Jahren ausgiebig diskutiert[5] #FN5 und neue Formen und Formate entwickelt, die ohne diesen Austausch nie hätten entstehen können. Ein gutes Beispiel dafür, dass kulturelle Bereicherung keine Einbahnstraße ist, sondern auf Wechselseitigkeit beruht: Der Islam kann Deutschland schöner machen und Deutschland kann den Islam schöner machen.

Denn natürlich hat dieser auch seine hässlichen Seiten, die mitunter auch in der Musik zu Tage treten. Wenn im Iran zeitweise selbst unpolitische Liebeslieder nur noch heimlich im Untergrund erklingen durften oder wenn in Afghanistan die Taliban das über Jahrzehnte geschaffene Lebenswerk eines Instrumentenbauers zerstörten, weil „Musik die Jugend von der Moschee fernhält“,[6] dann wird religiöse Ästhetik pervertiert und zur Legitimation von Gewalt und Terror missbraucht. Jede Religion kennt solche Schattenseiten. Viel zu oft haben die monotheistischen Religionen – allen voran das Christentum – im Namen Gottes gebrandschatzt und gemordet. Und selbst der friedfertige Buddhismus hat sich erst vor wenigen Jahren in Burma von seiner gewalttätigen Seite gezeigt. In vielen Ländern der Erde ist eine friedliche Begegnung der Religionen deshalb unmöglich oder kann nur, unter großer Gefahr und erheblichen Anfeindungen, im Verborgenen stattfinden.

Doch es gibt auch Gegenbeispiele. Länder, in denen religiöse Minderheiten „dazugehören“, in denen ein friedliches Neben- und Miteinander möglich ist und sich deshalb das Friedenspotential der Religionen entfalten kann. Deutschland ist ein solches Land. Eine Fülle von interreligiösen Arbeitskreisen, Runden Tischen und informellen Netzwerken kultiviert den regelmäßigen Austausch, lädt zum gemeinsamen Feiern, Forschen, Nachdenken, Essen, Musizieren, Fußballspielen, Reisen und Einander-Kennenlernen ein, setzt sich mit verbindenden Traditionen oder Zukunftsfragen auseinander und lotet die Möglichkeiten religionsübergreifender Gottesdienste oder gemeinsam genutzter sakraler Räume aus. Eine solch intensive und fruchtbare Zusammenarbeit setzt die Dialogbereitschaft und Friedfertigkeit aller beteiligten Partner voraus. Wenn einem diese Bereitschaft durch regelmäßiges eigenes Erleben längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dann schämt man sich gegenüber seinen muslimischen Freundinnen und Freunden fast, es eigens auszusprechen, doch die gegenwärtige Debatte zwingt mich dazu, es zu tun: Ja, liebe 76 Prozent, auch wenn die Medien euch kaum davon berichten und es noch nicht bis zu euch durchgedrungen ist – es gibt diese Bereitschaft. Auch unter Muslimen.
Es gibt sie seit Jahrhunderten, in vielen Ländern der Erde, und wer die Augen dafür öffnet, darf gerade in unserem eigenen Land gegenwärtig miterleben, wie hier lebende Musliminnen und Muslime engagiert den Dialog vorantreiben und gleichzeitig eine mitteleuropäische Spielart ihrer eigenen Religion zu entwickeln beginnen, die traditionsbewusst ist und doch auch ihre eigenen kulturellen Ausprägungen kennt. Die Akteurinnen und Akteure dieser Entwicklung sind exzellent ausgebildet und experimentierfreudig, sie haben nicht nur islamische Theologie, Religionspädagogik oder Islamwissenschaft studiert, sondern sind ebenso beheimatet und bewandert in der christlichen Theologie und in den klassisch-europäischen Kulturtraditionen. Was sie bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze, Forschungsfelder und Ideen miteinander verbindet, ist das Grundverständnis vom Islam als einer kulturell vielgestaltigen und anpassungsfähigen Weltreligion: Wenn es indonesische und bosnische, sudanesische und mongolische Spielarten des Islam gibt – warum dann nicht auch eine deutsche?
Auch die Rolle der Musik wird innerhalb dieses Prozesses neu verhandelt. So entstanden hierzulande in den vergangenen Jahren nicht nur islamischer HipHop oder deutschsprachige Lieder für den Religionsunterricht, sondern auch Chorkantaten in deutscher Sprache, die koranische Inhalte mit europäischer Mehrstimmigkeit kombinierten.[7] Ein besonders beeindruckendes Beispiel transkultureller Bereicherung durfte ich miterleben, als in einer unserer Stuttgarter Proben eine bekannte iranische Sängerin sowohl den schiitischen Gebetsruf anstimmte als auch aus dem Koran rezitierte, was in der Öffentlichkeit bislang (ohne dass es dafür eine eindeutige theologische Begründung gäbe) traditionell noch den Männern vorbehalten ist. Nachdem sie ihre beeindruckende Rezitation beendet hatte, sagte einer unserer muslimischen Mitwirkenden voller Nachdenklichkeit und mit Tränen in den Augen: „Unglaublich, dass wir Muslime uns etwas so Schönes seit Jahrhunderten vorenthalten!“.

Zugehörigkeit braucht Zeit
Natürlich wird der Islam in unserem Land nicht nur von alteingesessenen Akademiker/innen geprägt, sondern auch von jenen Musliminnen und Muslimen, die erst vor Kurzem überstürzt ihre Heimat verlassen und um ihr Leben reisen mussten. Und natürlich haben manche dieser Neuankömmlinge ein Weltbild im Reisegepäck, das noch nicht von vielen Jahren oder Jahrzehnten kultureller Assimilation geprägt ist, sondern von den restriktiven religiösen Regeln ihrer Herkunftsländer. Für Migranten kann „Zugehörigkeit“ immer nur ein Prozess des allmählichen Ankommens und wechselseitigen Kennenlernens sein. Das galt bereits vor achtzig Jahren: Die deutschsprachigen Hollywood-Emigranten wurden von ihren amerikanischen Nachbarn spöttisch als „Bei-unskis“ bezeichnet, weil ihre Gespräche permanent um die alte Heimat und die alten Werte kreisten. Es gilt genauso für die Millionen von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion und natürlich gilt es – wie sollte es anders sein – auch für die muslimischen Geflüchteten von heute.

Mitunter ist dieser Prozess des „Zugehörigwerdens“ für beide Seiten schmerzhaft und verursacht schwer erträgliche Wertekollisionen. Ja, liebe 76 Prozent, ich will es nicht leugnen: Es gibt Situationen, in denen rote Linien überschritten werden und untolerierbares Verhalten pseudo-religiös legitimiert wird – zum Beispiel dort, wo junge Männer ihre eigene Frauenverachtung und Homophobie mit „Islamischsein“ verwechseln. Umso wichtiger ist es, dass sie hierzulande die Chance erhalten, einen anderen, besseren Islam kennenzulernen als den ihrer patriarchalen Herkunftskultur. Dies aber wird nur dann möglich sein, wenn sie erleben, dass der Islam bei uns grundsätzlich „dazugehört“ und dass „unsere“ Werte und islamische Werte kein genereller Widerspruch sein müssen.
Nur wo dies klar und Zugehörigkeit nicht von vorneherein ausgeschlossen ist, wird sich jene Vertrauensbasis bilden können, auf der dann “rote Linien” überhaupt etwas wert sein können. Musikalische und andere kulturelle Begegnungen können dabei eine wichtige Rolle spielen, indem sie Raum und Gelegenheit bieten, um wechselseitige Fremdheit angstfrei zu erleben, zu akzeptieren und sie auf diese Weise behutsam und partiell zu überwinden. Die Fremdheit wohlgemerkt – und damit nicht zwangsläufig auch jeglichen Rest von Andersartigkeit.
Wo dieser Raum entsteht, da kann auch Schönheit entstehen. So zum Beispiel das nachfolgende Gedicht, das eine Dreizehnjährige (im Original in persischer Sprache) im Rahmen einer Textwerkstatt des Reutlinger Musikprojektes Fugato geschrieben hat:

Ich bin Afghanin, eine
Afghanin die Schlimmes sah.
Mein Land leidet unter
ISIS und der Taliban.

Kann nicht einen Schritt tun
um frei durchzuatmen
während Explosionen und Bomben
unsre Herzen in die Luft jagen.

Mitten in der Nacht, da wecken sie uns auf,
wir schnallen uns Taschen und
Rucksäcke auf.
Mit jeder nächtlichen Bewegung
wird das Weinen der Kinder stärker
Das Wehklagen der Frauen
Wie das Auf und Ab der Berge
(…)

Wir alle haben eigentlich
so viel gemeinsam
Auch wenn unsre Gesichter
sich unterscheiden
Und manche Herzen
sich unterscheiden
Sind wir doch alle nur Menschen,
alle nur Menschen.

Die Heimat von uns Afghanen
ist in der Hand des Feindes
Wir alle haben Leid gesehen
durch die Hand des Feindes.
Wir alle haben Armut erlebt
durch das Leben in der Fremde
Wir gehören alle Gott.

Islam und „jüdisch-christliches Erbe“
Da sich eine Nichtzugehörigkeit des Islam für die Gegenwart und jüngere Vergangenheit nur unter Aufbietung massivster Realitätsverweigerung behaupten lässt, muss zur Begründung die Geschichte herhalten. Also erklären die Fortissimo-Vordenker der religiösen Ausgrenzung, der Islam gehöre schon allein aus historischen Gründen nicht zu Deutschland. Dieses sei allein „christlich-jüdisch“ geprägt, der Islam demnach ein Fremdkörper.
Diese Argumentation ist schlichtweg falsch. Sie verkennt oder verschweigt, wie entscheidend der Islam die Kultur- und Geistesgeschichte Europas geprägt hat. Ohne ihn hätte die Entwicklung der Künste und Wissenschaften in Europa einen sehr viel langsameren und möglicherweise völlig anderen Verlauf genommen. Dies gilt für Mathematik und Philosophie, Medizin und Astronomie genauso wie für die Musik: Große Teile unserer europäischen Musiktraditionen von Monteverdi und Bach bis zu Hindemith und Stockhausen bauen auf dem pyhtagoräischen Weltbild und der Musiktheorie der griechischen Antike auf. Es waren islamische Gelehrte und jüdisch-sephardische Übersetzer, die dieses antike Wissen im Mittelalter wiederbelebten, aktualisierten und nach Europa brachten. Ohne den Islam, ohne die arabischen Universitäten in Bagdad und Damaskus gäbe es die christliche Kirchenmusik der Renaissance- und Barockzeit, die religiösen Volkslieder des Protestantismus oder die romantisch-reformjüdischen Kompositionen eines Louis Lewandowski allesamt nicht in der Form, in der wir sie kennen.[8]
Besonders zynisch ist es, gegen diesen verleugneten islamischen Einfluss ein gemeinsames „jüdisch-christliches“ Erbe ins Feld zu führen. Selbst wenn man das 20. Jahrhundert gänzlich ausblenden würde: Bereits das Reformjudentum des 18. und 19. Jahrhunderts musste erhebliche Widerstände überwinden, um am damaligen Kulturleben überhaupt partizipieren zu können. Indem sich Moses Mendelssohn und andere Vordenkerinnen und –denker der jüdischen Aufklärung beharrlich an den Ausgrenzungsversuchen der christlichen Mehrheitsgesellschaft abarbeiteten, trugen sie erheblich dazu bei, die Religionsfreiheit im Wertesystem der Aufklärung zu verankern. Dazu zählte in der Musik dann beispielsweise auch der Wunsch und Anspruch, das Werk Johann Sebastian Bachs nicht mehr nur als einen exklusiven Besitz des Christentums zu verstehen, sondern einen Rahmen zu schaffen, in dem es für alle da sein kann. Die Entstehung einer säkularen Konzertkultur, in der auch religiöse Musik mit nichtreligiösen Ohren gehört werden kann, wäre ohne das damalige jüdische Bildungsbürgertum weder nötig noch möglich gewesen.[9]
Ausgerechnet die hart erkämpfte religiöse Freiheit und kulturelle Partizipation der Juden – die Freiheit nämlich, einen anderen Glauben haben zu dürfen als die Mehrheitsgesellschaft und dennoch „dazuzugehören“ – nun mit ausgrenzender Absicht gegen den Islam ins Feld zu führen, ist nicht nur unsinnig, sondern wäre ein Verrat an genau diesem jüdisch-christlichen Erbe der Aufklärung.
Wir können es besser machen als die damalige Mehrheit und uns gemeinsam und gegenseitig von unseren schönsten Seiten zeigen. Und darum, liebe 76 Prozent: Mitte Mai beginnt der Ramadan. Lasst euch zum Fastenbrechen einladen, feiert miteinander und lernt, daheim im Fremden zu Gast zu sein. Es wird euch und Deutschland schöner machen.

(Ostern 2018)

[1] Repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey, vgl. DIE WELT vom 19.3.2018

[2] Cordula Heupts, Tuba Isik, Bernhard König (Hg.), Singen als interreligiöses Begegnung. Musik für Juden, Christen und Muslime, Paderborn 2016

[3] Eine wichtige Ausnahme bilden hier die mystischen Traditionen, in denen Musik teilweise eine zentrale Rolle spielt.

[4] Milad Karimi in: Heupts, Isik, König S. 203

[5] Zur Diskussion, ob die Koranrezitation in den Konzertsaal „gehört“ vgl. ausführlich: Heupts, Isik, König S. 158-164 und 208f.

[6] Vgl. www.trimum.de/start/archiv/fugato-2017

[7] So u.a. Reue und Umkehr von Saad Thamir oder ...und er sprach von Betin Günes (beide 2015).

[8] Vgl. dazu ausführlich: Heupts, Isik, König S. 164-174.

[9] Vgl. dazu ausführlich: Heupts, Isik, König S. 87-93.